Start of Ingrid Decker Collection.
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LEO BAECK INSTITUTE
Center for Jewish History
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RHEYDT - EINE STADT IM NATIONALSOZIALISMUS
Begnadet mit der späten Geburt, (d.h. Oktober 1945) hätten mich die Leiden der vielen
Millionen misshandelter, gefolterter, terrorisierter und gedemütigter Menschen des Holocaust
in den vielen Konzentrationslagern Europas nichts anzugehen brauchen. Trotzdem beschäftig-
ten sie mich mein Leben lang. Und dieses dunkle Kapitel der Deutschen Geschichte zieht sich
wie ein blutroter Faden durch mein Leben. Schon als Kind hörte ich die Erwachsenen hinter
vorgehaltener Hand und im Flüsterton über Leute reden, die ich gar nicht zu kennen schien.
Es handelte sich um Menschen, um Familien, deren Geschäfte, Häuser und Fabriken enteignet
wurden und die auf seltsame Weise verschwanden. Diese Geheimnistuerei erweckte mein
ganz besonderes Interesse, und ich horchte immer öfter hin, wenn es um diese
„Verschollenen“ ging. So hörte ich auch von Dr. Simons, dem Hausarzt meiner Grosseltern,
der mehr oder minder regelmäßig Hausbesuche machte, bei 1 3 Kindern war ständig eines
krank. Dieser gewisse Dr. Simons war nicht nur Arzt und Seelsorger, er war vor allem Mensch!
Wenn es in der Küche der ISköpfigen Familie schmal aussah, die Kinder anfällig waren und an
Mangelerscheinungen litten, dann griff Dr. Simons zum Rezeptblock und verschrieb ein
ordentliches Stück Suppenfleisch, das in der elterlichen Metzgerei abzuholen war. So freund-
lich und menschlich handelte er nicht nur in unserer Familie, er half, wo Menschen seiner Hilfe
bedurften. Aber auch Dr. Simons und seine ganze Familie wurde von den Nazis deportiert.
Und niemand hat auch nur einen Finger gekrümmt, um diesen rechtschaffenen, hilfsbereiten
und guten Menschen zu retten. Alle waren sie zu feige oder hatten Angst um ihr eigenes
Leben.
Auch der Name „Herta“ war mir ein Begriff, sie war die Tochter unserer Nachbarin, ich hatte
sie nie kennen gelernt. Sie war auf ganz brutale Weise ums Leben gekommen. Ich konnte -
trotz ihres tragischen Todes - nie Mitleid mit ihr empfinden. Sie mischte als BdM-Führerin an
vorderster Front mit, als sie eines Tages mit dem Fahrrad unterwegs war, spaßte sie mit
Soldaten, die einen Panzer fuhren und wurde versehentlich von dem schweren Gefährt über-
rollt. Sie war erst zwanzig Jahre alt. Herta hatte eine langjährige, intime, jüdische Schulfreundin,
mit der sie aufgewachsen war. Als die Nazis den Umgang mit Juden verboten, ließ Herta ihre
Freundin wie eine heiße Kartoffel fallen, verriet sie sogar an die Gestapo. Und wie alle Juden
nach und nach aus der Stadt verschwanden, wurde auch diese Freundin und ihre Familie
verschleppt.
Wir alle, Herta, Dr. Simons, Hilde Zander, Liesel Frenkel, hunderter umgebrachter Juden und
ich, wir haben eines gemeinsam: Wir stammen aus der Stadt, in der „Hitlers hinkender Bote“
-Josef Goebbels- beheimatet war, aus Rheydt im Rheinland. Diese nichts sagende und
unscheinbare Stadt am linken Niederrhein wurde plötzlich, am 13. März 1933, durch den
„Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ berühmt. Die Dahlener Strasse, in
der er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern lebte, hieß von nun an "Josef-Goebbels-
Strasse". Zwölf Jahre lang konnte er den Deutschen geschickt und redegewandt seine
nationalistische Demagogie aufschwatzen und sie weit verbreiten. Er stellte das Judentum
schlechthin als das "Böse" dar. Durch ihn, neben Hitler und Himmler, wurde das Leben für die
Juden, nicht nur in Rheydt oder Deutschland, sondern in ganz Europa zum Alptraum. Hier wie
überall wurden Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Mitbürger verfolgt und deportiert, um
das Land „judenrein“ zu machen. Auch viele Lehrer an den Schulen gehorchten der Obrigkeit
und behandelten jüdische Kinder wie Dreck.
„Reichsführer der SS“, Heinrich Himmler, lässt am 20. März 1933 das erste
Konzentrationslager in Dachau (bei München errichten) und ist auch später für alle anderen
Lager zuständig. Hier in Dachau wurden die Wachmänner der KZ auf ganz besonders harte
Art gedrillt und ausgebildet, es waren die so genannten „Totenkopfverbände“. Die
„SS-Totenkopfverbände“ wurden regelrecht auf Hass und Brutalität abgerichtet:
„Für Weichlinge gibt es keinen Platz“, man könne nur harte und entschlossene Männer
gebrauchen, die jedem Befehl rücksichtslos gehorchen, man trüge nicht umsonst den
Totenkopf und die stets geladene Waffe! Ihr Wahlspruch lautet: „Meine Ehre heißt Treue“.
Himmlers Idealmensch ist entsprechend dem Blut- und Rassegedanken, blond, groß und
blauäugig. Germanisch sind Mannesstolz, Heldenmut und Treue - nicht Sanftmut,
Zerknirschung, Sündenelend und ein Jenseits mit Gebet und Psalmen“. ( I )
Während Himmler sich um „Zucht und Ordnung“ in den KZ bemüht, lässt Goebbels in Berlin
die Aktion "wider den undeutschen Geist" (2) anlaufen. „In Möbeltransportern und Autos
werden die verfemten Bücher herangebracht, die Studenten aus öffentlichen und privaten
Bibliotheken aussortiert haben“. (2a) Rund 20.000 Bücher von Autoren, die den Nationalisten
missliebig sind, werden auf Scheiterhaufen am Berliner Opernplatz unter Hetzparolen
verbrannt: "Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky - gegen Frechheit
und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist:
Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky!" (3)
Wie sagte schon Heinrich Heine: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch
Menschen“. (3a)
Dabei war Goebbels selbst kein besonders guter Student gewesen - auch sein Äußeres lag
weit entfernt vom nationalistischen Rassenideal. Seine schriftstellerischen Ergüsse waren nicht
einmal mittelmäßig und fanden kaum Beachtung. Er hatte sich nach seinem Studium, wo er bei
dem berühmten jüdischen Professor Friedrich Gundolf an der Universität Heidelberg
Philosophie studiert hatte und danach keineArbeit fand, mit dem Rheydter Rechtsanwalt Josef
Joseph angefreundet, dem er seine Stücke vorlas und auf Lob und Anerkennung hoffte. Der
Rechtsanwalt war sicher ein geduldiger und langmütiger Zuhörer, es ist jedoch anzunehmen,
dass Dr. Joseph über die Goebbels-Vorträge nicht in all zu große Euphorie geriet. Das beweist
der „Offene Brief*, der von Dr. Joseph im November 1944 in der amerikanisch-deutsch-
sprachigen Wochenzeitschrift Aufbau veröffentlicht wurde:
Er schreibt im November 1 944 in den USA:
„Vor 25 Jahren, in einer kleinen bekannten industriellen Stadt im Rheinland kam
ein hagerer junger Mann zu einem Jüdischen Rechtsanwalt, der als leidenschaft-
licher Freund der Literatur und Förderer vieler junger Schriftsteller und Künstler
bekannt war. Dieser junge Mann, dessen Portemonnaie so leer wie sein Magen
war, kam dem Rechtsanwalt sein erstes, gerade fertig gewordenes Schauspiel vor-
zulesen, nachdem er zurückgekehrt von der Universität Heidelberg. Er hatte
gerade seinen Doktor der Philosophie erhalten, nachdem er bei dem berühmten
jüdischen Professor Friedrich Gundolf studiert hatte.
Dieser junge Mann warst Du, Josef Goebbels, zu damaliger Zeit dem Publikum
ganz unbekannt, doch überfüllt mit Ehrgeiz, bekannt zu werden, als Dichter und
Schauspielverfasser. Jedoch Dein Schauspiel „Der Wanderer** war eine Niete, mit
keiner Aussicht, erfolgreich veröffentlicht oder vorgestellt zu werden. Dabei war
2
es eine Art Plagiat des „Wotan“ von Richard Wagner. Endlich sahst Du es selber
ein und tröstetest Dich mit dem reichlichen Essen und Wein, den Dein jüdischer
Anwalt Dir nur zu gerne stiftete. Dieser selbe jüdische Anwalt war gerade auch
die einzige lebendige Seele in Deiner Heimatstadt Rheydt, welche, zusammen
mit einem Deiner früheren Professoren, die Möglichkeit sahen, dass Du ein
Redner oder Schriftsteller werden könntest und Dir den Rat gab, das Beste aus
Deinem Studium mit dem jüdischen Professor in Heidelberg zu machen. Der
Rechtsanwalt also verhalf Dir zu einem anständigen Verdienst während dieser
trüben Tage der Inflation und Arbeitslosigkeit. Erinnerst Du Dich? Ich bin ganz
sicher, Jupp Goebbels.
Vor 20 Jahren, vor der Reichstagswahl im November 1924 erschienst Du auf
einmal als öffentlicher Redner der nationalsozialistischen Ideen von Ludendorff
und Hitler. Deine Karriere seit dem. Dein Anstieg zur Macht zusammen mit
Hitler, Dein Posten als Propagandaminister und Haupt-Judenhasser, Dein Verkauf
der Ideen der Rassen-Übermacht an das Deutsche Volk, Dein gärender
Rassenhass und nationalistischer Fanatismus, und letzteres. Dein Pogrom im
November 1938, als auf Deinen Befehl 2.000 Synagogen und jüdische
Tempelgebäude über ganz Deutschland zu Grunde brannten, als ob sie alle in
einem Feuer vernichtet wurden; all dies ist jedem in der Welt bekannt.
Siehst Du nicht, Josef Goebbels, dass all das Leid, welches Du auf Deine
Mitmenschen herab gerufen, jetzt auf Dich zurückkommt tausendfach, auf Dich
und Deine Anhänger. Überlege mal Jupp, und denke auch an folgendes: Du hast
eine alte Mutter, und ich weiß. Du hast sie sehr lieb. Ich weiß auch, dass Du ein
gütiger Bruder Deiner Schwester Marie gegenüber gewesen bist. Deine zwei
Brüder hast Du beide in hohe Posten situiert, zwei Brüder, denen ich einst aus
einer sehr schwierigen Situation half. Denk an Deine Kinder, ich weiß. Du hast sie
sehr gerne. Wegen Deiner alten Mutter, Deiner Schwester und Brüder und wegen
Deiner Kinder, welche selber Flüchtlinge mit einem schrecklichen Schicksal wer-
den - mache ein Ende der Verfolgung und Vernichtung hilfloser Männer, Frauen
und Kinder bis an die Grenze Deines Landes; erlaube besonders die Anwendung
der internationalen Gesetze für Zivilgefangene in allen jüdischen Ghettos und
Lagern oder überlasse die Gefangenen dem Roten Kreuz oder schicke sie mit
allen anderen Gefangenen in die Schweiz. Vielleicht wird ein solches
Unternehmen eines Tages irgendwie an Deinen Kindern gutgemacht. Jetzt bist Du
noch in der Lage, dieses Unternehmen auszuüben, zusammen mit Deinem
Freund Himmler. Doch tue es ohne Verzögerung, die Zeit wird kurz; tue es, ehe
die letzten Mauern Berlins auf die Köpfe der letzten Bürger einstürzen.
Die Mauern des kleinen Hauses auf der Josef-Goebbels-Strasse in Rheydt, wo
Deine Mutter einst einfach, jedoch zufrieden lebte, sind schon zu Staub zerfallen.
Veröffentlicht in den U.S.A. 1 944
von Josef Joseph, Rechtsanwalt; früher Rheydt" (4) I
I Diese Angabe von Josef Joeph ist irrig. Das Elternhaus Goebbels, Dahlener Str. 156, steht
heute noch. (Die Verfasserin)
3
Dr. Josef konnte sozusagen in letzter Minute 1939 dem Naziterror entfliehen, er landete nach
vielen Umwegen mit seiner Familie in Chicago, wo er nie richtig heimisch wurde. Mit seinem
„Offenen Brief* wollte er Goebbels zur Vernunft, zur Umkehr bewegen, denn zu diesem
Zeitpunkt hätte man noch viele Menschen aus den KZ befreien und retten können. Goebbels
war aber schon zu weit gegangen, für ihn gab es kein Zurück. „Aufgabe“ hätte für ihn
„Selbstaufgabe“ bedeutet. Bereits 1 923 hatte sich Goebbels mit dem Judentum befasst. Man
fand unterschwellig antisemitische Äußerungen in seinen Tagebüchern. (Es gibt eine nicht
belegte Geschichte, dass Josef Goebbels als Kind von einer jüdischen Frau vor dem Ertrinken
gerettet wurde.) Als Goebbels dann 1933 der NSDAP beitrat, grüsste er seinen ehemaligen
Zuhörer und „Freund und Helfer“, Dr. Joseph, nicht mehr.
Beide, Josef Goebbels und auch Dr. Josef Joseph starben 1 945. Der Massenmörder, Henker
und Verbrecher Josef Goebbels knapp 6 Monate vor meiner Geburt, der hilfsbereite, gütige,
teilnehmende, verfolgte und betrogene Rechtsanwalt Dr. Joseph starb in Chicago, zwei Monate
nach meiner Geburt in Rheydt. Zwar konnte Dr. Joseph den Zusammenbruch Deutschlands
noch erleben. Aber sicherlich war es keine Genugtuung für ihn, er konnte und wollte sich des
Lebens nicht mehr erfreuen und starb am 6. Dezember 1 945 an gebrochenem Herzen.
Nachruf für Josef Joseph in der amerikanischen deutschsprachigen Wochenschrift „Aufbau“
vom 7.12.1945
NACHRUF
Wir beklagen das Hinscheiden des ehemaligen Board-Mitgliedes
unserer Gemeinde, unseres hochverehrten Herrn
Josef Joseph
Der Dahingeschiedene hat sich durchseine hingebungsvolle
Mitarbeit am Aufbau unserer jungen Gemeinde große Verdienste
erworben. Er hat seine vorzügliche, juristische Sachkenntnis, wie
sein bedeutendes jüdisches Wissen in den Dienst unserer
Gemeinde und unserer Chewroh gestellt; und er hat keine Mühe
und Arbeit gescheut, um unserer Gemeinde hilfreich zur Seite zu
stehen. Er war es, der die Statuten geschrieben hat, die heute die
Verfassungsmäßige Grundlage unserer Gemeinde bilden. Seine
Schlichtheit und Gradheit, seine Liebenswürdigkeit und seine
Friedensliebe haben ihm allgemeine Hochachtung erworben.
Wir werden ihn niemals vergessen!
Das Andenken des Gerechten ist zum Segen!
Philadelphia, Pa., Hislev. 5706.
Officers, Board u. Rabbi of Congr.Tikvoh Chadashoh
4
2)er Gtoiibesieamte
\
Trauzeugen am 22.8.1927 in Oldenkirchen
Joseph Goebbels im Alter von 32 Jahren.
Das Foto ist von ihm unterschrieben mit: „Meiner lieben Mutter. Weihnachten l929.Joseph“
I
I
Nach der Stimmabgabe (vermutlich beim 2. Wahlgang der Reichspräsidentenwahl am 10. April 1932)
Im Wohnzimmer des Dorfschgulzen von Goldenbow:
Joseph Goebbels und Magda Quandt während ihrer standesamtlichen Trauung am 19. Dezemvber 1931
7
Das Elternhaus des Ehrenbürgers der Stadt Der Reichsminister bei seiner Ankunft.
Gladbach-Rheydt in der Dahlener Straße, Links von ihm Karl Hanke,
die fortan Joseph-Goebbels-Straße hieß
(23.Aprill933).
Der .Adolf-Hitler-Platz“ in Rheydt während der Ansprache des neuen Ehrenbürgers am 24. April 1933
. jii.
Mit Tochter Helga während eines Urlaubs auf der Seebrücke des
mecklenburgischen Ostseebades Heiligendamm (Sommer 1935).
Die Goebbels-Kinder.
Auf die Rückseite des Bildes schrieb Magda:
„Wir wünschen der lieben Oma ein schönes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr!
Helga, Hilde, Helmut, Holde, Hedda und die kleine Heide, die noch nicht dabei ist!“ (1940)
9
Wandaufschrift in einem Keller in Köln am Rhein, wo
sich einige Juden während des ganzen Krieges versteckt
gehalten haben:
„Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube
an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott,
auch wenn er schweigt“.
An Ojfschrift ojf a Want in a Keller in Köln am Rhein, wu ejnige
Jiden hoben sich ojsbahaltn inVarlojfvun der ganzer Milchome.
„Ich glojb in der Sunn, afile wenn sie scheint nit; ich glojb in der
Liebe, afile. Wenn ich fihi ihr nit, ich glojb in Gott, afile wenn er
schweigt“.
10
Ein anderes Schicksal ist das von Ruth Hermges, die als Kind aus einer
„Mischehe“ stammend, unter widrigsten Umständen den Zweiten Weltkrieg
in ihrer Heimatstadt Mönchengladbach überlebte.
EINE KINDHEIT IM NATIONALSOZIALISMUS
Gemälde von Salvador Dali im Museum Reyna Sophia, Madrid
RUTH HERMGES
Nachdem die Familien-Chroniken der ehemaligen Rheydter und Mönchengladbacher
jüdischen Mitbewohner der beiden Städte in den siebziger Jahren in einem Geschichts- und
Bildband festgehalten und aufgearbeitet wurden, blieb bislang das Schicksal der Familie
Vergosen im Dunkeln. Auch Hans und Johanna Vergosen, geborene Levy, die in den 20er Jahren
eine so genannte Mischehe eingegangen waren, sind in dieser Chronik erwähnenswert, denn
auch sie litten unter dem Hitlerregime und wurden Opfer des Nationalsozialismus.
Die sechs köpfige Familie Vergosen, Hans, Johanna und ihre vier Kinder, Max, Ruth, Herta und
Hans, aus Mönchengladbach, Brunnen Straße 177, wurde in der Zeit, als die Deportierungen
einsetzten, auseinander gerissen. Max, der Älteste, wurde 1 927 geboren, es folgte 1 932 Ruth,
1937 erblickte Hans das Licht der Welt und 1938 das Nesthäkchen Herta. Niemand von der
Familie wusste bei ihrer Trennung 1941, ob sie sich je wieder sehen würden. Aber wie man
aus dem folgenden Text ersehen kann, hatte diese Familie einen besonderen Schutzengel.
Einen großen Verdienst am Überleben dieser Familie hatte Dr. Walter Reiners.
Sicher spielt die Tatsache, dass Hitlers Propagandaminister Goebbels aus der Stadt Rheydt
stammte, eine gewichtige Rolle, so dass die Autoritäten und Machthaber mit Übereifer bei der
Sache waren. Eine andere Gefahr stellten die Nachbarn dar, die denunzierungsbereit auf der
Lauer lagen. DieVergosens ahnten oder wussten schon rechtzeitig, dass sie vor den Nazis auf
der Hut sein mussten, denn Johanna war Jüdin und was in der Stadt mit den jüdischen
Mitbürgern geschah, war ihnen selbstverständlich zu Ohren gekommen. Die nationale
Rassenlehre (Antisemitismus) wurde 1935 in den „Nürnberger Gesetzen“ festgeschrieben.
Die Deutschen Juden wurden zu Staatsbürgern minderen Rechts herabgestuft. Ehen,
Freundschaften oder gar sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Deutschen waren ver-
boten. Zuwiderhandlung bedeutete „Rassenschande“ und wurde mit Zuchthaus oder später
mit der Todesstrafe bestraft. Durch zahlreiche Ergänzungsverordnungen in den nächsten
Jahren wurden die Juden praktisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen und waren rechtlos.
Die Familie Vergosen versuchte so unauffällig wie möglich zu leben, damit sie von den Nazis
nicht behelligt wurden.
Oftmals ist die Partei an Hans Vergosen herangetreten und versuchte ihn zu überreden, sich
von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Hans Vergosen aber hielt fest zu seiner Frau und
hatte dadurch noch oft unter der Willkür der Naziherrschaft zu leiden. Auch erhielt nur er
Lebensmittelkarten, seine Frau und Kinder wurden nicht berücksichtigt. Als Gasmasken an die
Bürger verteilt wurden, erhielt die große Familie nur eine einzige, Herr Vergosen gab sie
unverzüglich zurück. Mitleidige Nachbarn steckten der kleinen Ruth heimlich
Lebensmittelkarten zu. Trotzdem waren die drei jüngeren Kinder noch zu klein, um eine
Gefahr zu erkennen, die dabei war, ihre Familie zu zerstören. Max jedoch war mit seinen 14
Jahren bereits alt und reif genug, um eine Bedrohung des Staatssicherheitsdienstes und dem
umtriebigen Polizeiaufgebot in der Stadt zu erkennen. Ab 1935, als die Rassegesetze in Kraft
traten, lebten die Eltern zwar in ständiger Furcht vor Repressalien der Nazis, aber 1 94 1 und
1 942 wurde es für die Familie kritisch.
Die 1932 geborene Ruth wurde 1938 in der jüdischen Schule in der Albertus Strasse, in
Mönchengladbach, eingeschult. Ein Jahr lang konnte sie mit ihrem älteren Bruder gemeinsam
den langen Weg zur Schule gehen. Ruth erinnert sich noch, dass sie bereits als kleines Mädchen
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den großen gelben und auffälligen „Stern“ tragen musste, den sie überhaupt nicht mochte. Um
ihn zu verdecken, trug sie ihren Schulranzen nach vorne anstatt auf dem Rücken.
(Laut Gesetz musste der Judenstern ab dem 1 .9. 1 94 1 auf der linken Seite der Brust getragen
werden). Mit Beginn des Krieges wurde der Schulbetrieb eingestellt. Die jüdische Gemeinde
wurde aufgelöst und das Gebäude enteignet. Es gab ja auch keine Schüler mehr, fast alle
wurden In KZ verschleppt. Von den dreißig (über 40) jüdischen Schülern überlebten bei
Kriegsende nur drei. Einer der Überlebenden war nach dem Krieg nach Amerika ausgewan-
dert, ein anderer, Werner Steckrüb, ein Freund Max Vergosen 's, lebt heute in Israel.
Eines Tages erschienen SS-Leute im Hause Vergosen um den jugendlichen Max abzuholen, aber
dieser war gerade nicht zugegen. Als er hörte, dass er sich bei der Gestapo melden sollte,
wollte er sich bei der Nachbarin, Frau Schröder, ein Fahrrad leihen, sich aufschwingen, um ein
eventuelles Missverständnis aufzuklären, denn er hatte ja nichts verbrochen. Die aufmerksame
Nachbarin konnte den naiven Max nur mit Mühe von der verhängnisvollen Fahrradfahrt zur
Kommandantur abhalten und rettete ihm dadurch das Leben. Sie versteckte ihn zunächst in
ihrem Keller, dann wechselte er oftmals den Ort und blieb zunächst für einige Zeit
verschwunden, aber das Heimweh trieb ihn immer wieder nach Hause. Auch als eines Tages
ein schwerer Bombenangriff über der Stadt wütete, zog es Max zu seiner Familie.
Dann wurde Max doch eines Tages geschnappt und kam zur Gestapo am Spatzenberg, wo der
16jährige eine Unterschrift leisten sollte. Da er noch Minderjährig war, verlangte der Vater von
den Nazis den Jungen frei zu lassen. Irgendwann, bei einem erneuten Abtransport der Juden
in Richtung Osten, wurde Max aufgefordert seine Koffer zu packen. Er stand bereits mit
anderen Mönchengladbacher Mitbürgern in Düsseldorf auf dem Hauptbahnhof, als jemand ihm
zurief, dass er „abhauen“ sollte. Max überlegte nicht lange, sprang auf den nächsten Güterzug,
der zum Glück in Richtung Mönchengladbach fuhr und kam wieder nach Hause. Von nun an
musste sich Max verstecken, denn die Gestapo war auf der Suche nach ihm.Wenn sie ins Haus
der Familie Vergosen kamen, sagten sie: „Wir warten auf einen dreckigen Judenlümmel und
wenn wir ihn haben schlagen wir ihn zusammen“. Einmal nahmen sie den Vater mit aufs Revier
und sagten: „Der Judenlümmel ist uns durch die Lappen gegangen, aber wir haben den Alten
mitgebracht“.
Auch die Mutter, Johanna Vergosen, tauchte zunächst in der Nachbarschaft unter, konnte dann
einige Zeit bei ihren Schwiegereltern in der Nachbarstadt Viersen Unterschlupf finden. Aus
Angst vor Verrat blieb sie nie länger an einem Platz. Ebenso erging es Max, der sich an vielen
fremden Orten von der Mutter und seiner Familie getrennt, versteckt hielt.
Der Schlosser, Hans Vergosen, war bei der Firma Schlafhorst beschäftigt, die von Dr. Reiners
geführt wurde. (Walter Reiners war der Schwiegersohn Konrad Adenauers).
Selbstverständlich erhielt auch Hans Vergosen am Anfang des Krieges seinen
Einberufungsbefehl, jedoch konnte Dr. Reiners seinen Weggang verhindern. Da Dr. Reiners
Hans Vergosen gut kannte und ihn sehr schätzte, auch um seine Familienverhältnisse wusste,
setzte er ihn als unersetzliche Kraft in seinem Betrieb ein. Die ehemalige Textil-
Maschinenfabrik, Schlafhorst, die heute noch - allerdings unter anderer Leitung - in Betrieb ist,
stellte während des Zweiten Weltkrieges Waffen und Munition her, also Nachschub für die
Schlachtfelder. Hans Vergosen machte sich in den Kriegsjahren in diesem Rüstungsbetrieb
unentbehrlich und Dr. Reiners hielt seine schützende Hand über ihn. Er wusste auch, dass sich
Johanna und Max Vergosen versteckt hielten und so erlaubte Dr. Reiners, dass Hans Vergosen
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jederzeit während des Tages nach seinen drei kleinen Kindern sehen konnte, die alleine in der
Wohnung zurück geblieben waren. Zum Glück lag die Wohnung derVergosens in Firmennähe.
Bei Bombenangriffen oder in kritischen Situationen verließ der Familienvater mit Erlaubnis
seinen Arbeitsplatz und war während dieser Jahre in ständiger Sorge um jedes einzelne
Familienmitglied. Angst, Beklemmung, Kümmernis, Unsicherheit wurden zu seiner schwersten
Bürde. Ruth sah oft vom Fenster aus, wenn ihr Vater in seinem blauen Arbeitsanzug, voller
Unruhe und im Laufschritt die Strasse entlang eilte. Immer wieder beschlichen den Mann böse
Vorahnungen, die sich leider auch oftmals bestätigten.
Einmal passierte etwas, was der damals elf oder zwölf jährigen Ruth bis heute im Gedächtnis
geblieben ist. Die Familie besaß einen kleinen Singvogel, der in einem hübschen Käfig auf dem
Küchenschrank stand. Als die Gestapo wieder einmal nach dem Verbleib von Mutter Vergosen
und ihrem Sohn Max Ausschau hielt, die Wohnung in der Brunnenstrasse stürmte, passierte
für die damals kleine Ruth und deren Geschwister etwas furchtbares. Da die SS-Leute wieder
einmal umsonst gekommen waren, rächte sich einer der Uniformierten auf ganz persönliche
Weise. Er nahm den Vogelbauer vom Schrank, öffnete das kleine Türchen des Käfigs, ließ den
Sing-Vögel frei in dem er sagte „der ist arisch“. Dann stellte er den Vogelkäfig auf den
Fußboden und zerstampfte mit seinen schweren Stiefeln das filigrane Gehäuse. Die Kinder
sahen erschrocken, vor Angst erstarrt und mit großen Augen der sinnlosen Zerstörung zu.
Ruth, beim Weggang ihrer Mutter erst acht oder neun Jahre alt, war nun gezwungen den
Haushalt zu übernehmen. Sie ersetzte den beiden jüngeren Geschwistern die Mutter. Anstatt
mit gleichaltrigen Kindern zu spielen und in der Schule zu lernen, wurden für das Mädchen
Ruth waschen, kochen, bügeln zum Lebensinhalt. Da sie zu klein war, um die Tischplatte zu
überschauen, zimmerte ihr Vater ihr eigens ein kleines Fußbänkchen. Auf diesem stehend
bereitete sie die Mahlzeiten und rührte Kuchen.
An Ausbildung war während der Kriegsjahre nicht zu denken. Vor dem Krieg hatte Ruth ein
Jahr lang die jüdische Schule in der Albertus Strasse besucht, die jetzt längst geschlossen war.
Die Staats-Schule verweigerten ihr - als Halbjüdin - den Eintritt. Bei Kriegsende, als die
Familie wieder beisammen war, war Ruth 1 3 Jahre alt. Sie war zu alt um erneut die Schule zu
besuchen, außerdem wurde im Haushalt jede Arbeitskraft benötigt, um die Familie zu
ernähren. Pubertätsprobleme wurden unterdrückt,Teenager-Träume kamen gar nicht erst auf.
Die sechs Kriegsjahre bürdeten dem kleinen Mädchen das Leben eines abgeklärten und
lebenskundigen Menschen auf.
Hans Vergosen lernte gegen Ende des Krieges einen Belgier namens Ludwig Ramakers
kennen, der in Mönchengladbach einen Schutz-Bunker aus Beton gebaut hatte. Als in den
letzten Kriegstagen noch Schüsse fielen, warnte der Belgier die Familie Vergosen noch davor
im eigenen Haus zu bleiben, sondern den Bunker aufzusuchen. Am 25.2.1945 war der letzte
Großangriff. Am 27.2.45 besetzten die amerikanischen Soldaten den Vorort Rheindahlen, der
von deutschen Soldaten verlassen worden war. Bei ihrem Vormarsch stießen die Amerikaner
kaum auf Widerstand. Am 28.2. rückten Einheiten der 29. Infanterie-Division vor. Der
endgültige Sturmangriff auf Mönchengladbach begann in den frühen Morgenstunden des
I. März 1945. Obwohl die Mutter froh war, endlich wieder bei ihrer Familie zu sein, und sich
nicht mehr verstecken wollte, fanden sie alle in den letzten Kriegstagen doch Unterschlupf im
engen Beton-Bau auf der Vitusstraße. Hier wurde die Familie am 16. März 1945 von den
Amerikanern befreit. Ruth erinnert sich heute noch, als am Nachmittag ein Jeep mit
amerikanischen Soldaten vor dem Bunker hielt und nach einer jüdischen Familie fragte, womit
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sie gemeint waren. Es war der Belgier Ludwig Ramakers, der den Amerikanern mitteilte, dass
eine jüdische Familie aus dem Bunker zu befreien sei.
Nach dem Krieg erhielt Ruth eine kleine Entschädigungsrente, die aber nach wenigen Jahren
wieder einbehalten und rückgängig gemacht wurde. Diese Entscheidung hing von einem Arzt
ab, der Ruth begutachtete und untersuchte und der befand, dass sich die eventuell entstande-
nen seelischen Schäden während der Kriegsjahre „ausgewachsen“ hätten. Er bescheinigte ihr
völlige Gesundheit und somit fiel ihre Rente weg. Was der Arzt nicht weiß, ist, dass Ruth seit
damals - bis heute unter Schlaflosigkeit, Angst, Nervosität und Unruhe leidet.
Ihr Vater, Hans Vergosen, eröffnete nach dem Krieg ein Speditionsgeschäft, indem auch Max
beschäftigt war. Die Mutter kümmerte sich um die Buchhaltung, auch Ruth musste ab und zu
im Familienbetrieb einspringen. Hans Vergosen hat den Krieg nur um wenige Jahre überlebt,
er war lange krank und starb 1954 mit 59 Jahren. Das Leben während der Kriegszeit, der
Druck der Nazis, die unendliche Angst um seine Familie haben aus dem tatkräftigen
Familienvater einen gebrechlichen und kranken Mann werden lassen. Johanna Vergosen hat
ihren Mann um fast 30 Jahre überlebt. Sie war in ihrem späteren Leben sehr verschlossen und
hatte jegliches Vertrauen in die Menschen verloren. Auch Max, der älteste Sohn, der später
einen Reifenhandel betrieb, war nie bereit über die angsterfüllten Jahre im Versteck zu
sprechen. Max starb mit 64 Jahren an Lungenkrebs.
Die jüngste Tochter der Vergosen-Familie, Herta, die eigentlich am wenigsten von den
schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges mitbekam, starb mit 49 Jahren ebenfalls an
Krebs. Die Familie hat sich in den letzten Jahren weiter verkleinert.
Hans Vergosen, der es nach dem Krieg in der Textil-Stadt Mönchengladbach zum Textil-
ingenieur gebracht hat, lebt in Düsseldorf, wo er seit vielen Jahren ein Stoff-Geschäft führt.
Die wichtigste und positivste Erfahrung im Leben von Ruth Vergosen war die Begegnung mit
ihrem späteren Ehemann, Günter Hermges. Sie heirateten 1 950 und führten 47 Jahre lang eine
glückliche Ehe. Sie bekamen zwei Kinder, die beide verheiratet sind und Ruth bislang je einen
Enkel bescherten. Ruth und Günter Hermges führten viele Jahre lang gemeinsam ein Geschäft.
Der Tod ihres Mannes, im Jahre 1996, veränderte Ruths Leben schlagartig, sie hat mehr als
sechs Jahre gebraucht um sein Hinscheiden einigermaßen zu verkraften. Jetzt aber kommt ihre
Kämpfernatur wieder zum Vorschein. Warum sollte sie mit ihren 70 Jahren das Haus aufgeben,
indem sie mit ihrem Mann glücklich war und in dem alle ihre Erinnerungen stecken? Nur eines
verkraftet sie noch schlecht - und das ist, wenn sie eine CD mit der Musik ihres Mannes spielt,
der ein leidenschaftlicher Jazzmusiker war. Er spielte Schlagzeug und war Sänger seiner Band.
Bei der swingenden und erheiternden Musik kommen Ruth immer noch regelmäßig die
Tränen.
Obwohl Günter Hermges, so wie Ruth's Vater, Hans Vergosen, Katholiken waren, liegen beide
Männer auf dem jüdischen Friedhof in Mönchengladbach beerdigt.
Im Alltag und in ihrer Umgebung ist Ruth aus der Familie nur noch ihr Bruder geblieben, den
sie in ziemlich regelmäßigen Abständen sieht und zu dem sie ein gutes Verhältnis hat. Hans lässt
bei manchen Unterhaltungen mit seiner Schwester durchblicken, dass er sich heute wundert,
dass Ruth trotz der fehlenden Schulbildung lesen und schreiben kann. Jedoch leidet Ruth
heute mehr denn je darunter, dass sie nie die Möglichkeit hatte einen eigenen und selbst
gewählten Beruf ausgeübt zu haben. Man sieht es der zierlichen, eleganten, attraktiven, sehr
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agilen und tatkräftigen Frau nicht an. dass sie ein schweres Schicksal zu bewältigen hatte. Ruth
Hermges hat keine Angst vor nichts und niemandem. Wer die energische und selbstbewusste
Frau näher kennt, kann kaum glauben, dass sie nur ein Jahr lang die Schule besuchen konnte.
Das Schicksal mit dem Namen „Nationalsozialismus“ hat Ruths Persönlichkeit geformt,
gebeutelt und geknetet, aber sie hat sich niemals unterkriegen lassen.
Ich persönlich finde erwähnenswert und wichtig, sie in der Chronik der Mönchengladbacher
Juden aufzunehmen.
Während meiner Schulzeit in den 50er und 60er Jahren habe ich nicht viel über den Krieg,
die Nazis und die SS erfahren, selbst die KZ wurden totgeschwiegen. Dass Goebbels aus
Rheydt kam, erfuhr ich erst viel später. Vielleicht haben sich die Menschen geschämt, so
grausame Dinge vollbracht zu haben. Aber vielleicht wollten sie nicht über den Krieg reden,
weil sie nicht als Helden und Sieger hervorgingen. Hat man uns die jüngste Geschichte unter-
schlagen weil die Deutschen merkten versagt zu haben?
Mitscherlich erklärt in seinem Buch „Die Unfähigeit zu Trauern“: „Wo ausgebaut und auf-
gebaut wurde, geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten, aber kaum noch in einem
durchdachten Zusammenhang mit der Tradition. Das trifft nicht nur für Häuser, sondern auch
für den Lehrstoff unserer Schulen, für die Rechtssprechung, die Gemeindeverwaltung und
vieles andere zu... Vorerst fehlt das Sensorium dafür, dass man sich darum bemüht hätte -
vom Kindergarten bis zur Hochschule - die Katastrophe der Vergangenheit in unseren
Erfahrungsschatz einzubeziehen... In allem sehen wir jene Hemmung, jene Blockierung der
sozialen Phantasie, jenen fühlbaren Mangel an sozialer Gestaltungskraft“. (5)
Nicht nur die Lehrer an den Schulen drückten sich vor der Wahrheit, sondern der Grossteil
der Bevölkerung blieb - und bleibt - auf Befragen stumm, sucht nach Ausreden und
Ausflüchten, um Hitler Untaten zu rechtfertigen. Hatte doch - laut Aussage der
Kriegsgeneration - , Adolf* doch für weniger Arbeitslose gesorgt und die Autobahnen gebaut
(die allerdings schon vorher geplant worden waren). Für die damalige Jugend, die Hitler
und Goebbels voller Enthusiasmus zujubelte, war diese Zeit vielfach eher ein
,Abenteuerspielplatz“. (Viele Menschen, die unter dem Naziregime aufwuchsen, reden heute
noch mit Glanz in den Augen von der schönen Zeit).
Ich bin sicher, nur wenige der heutigen Abiturienten wissen, dass Goebbels in Rheydt geboren
wurde und sie deshalb eine ganz besondere Stadt ist. Was hat die Stadt Rheydt zum Andenken
an ihre früheren jüdischen Mitbürger gemacht? Außer dem Gedenkstein, den man in den 70er
Jahren an die Stelle der ehemaligen Synagoge aufstellte, und einer Strasse, die plötzlich „Moses
Stern Strasse“ hieß, ist mir nichts aufgefallen.
Dieses Treffen aller lebenden Juden aus Mönchengladbach und Rheydt, das Ende der 80er
Jahre stattfand, kann keine Entschädigung sein. Nicht einmal auf der ökumenischen
Gedenkfeier - am 13.5.95 - in der Mönchengladbacher Synagoge sind mir - außer dem
Bürgermeister, dem Polizeipräsidenten, nebst Gattinnen und Journalisten - keine normalen
Bürger aufgefallen. Ein besseres Beispiel ist die Universitätsstadt Tübingen, die öfter ihre ehe-
maligen jüdischen Mitbürger zu einem Gedankenaustausch und zu Gedenkfeiern in die alte
Heimat einlädt. So lernt auch die Städtegesellschaft besser mit ihrer Vergangenheit umzu-
gehen. Haben sie, die Bewohner von Mönchengladbach und Rheydt, nicht sogar Recht? Wenn
man sich 50 Jahre um nichts gekümmert hat, braucht man es auch an solch einem Jahrestag
nicht. Mich hat es in die Synagoge gezogen, weil ich mich mit der jüdischen Bevölkerung
solidarisch zeigen wollte. Ich kann nur hoffen, dass die Juden uns und unseren Vätern
verzeihen, ich jedenfalls wüsste nicht, ob ich dazu in der Lage wäre.
Der Gottesdienst und Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes für die gefallenen
Soldaten war besser besucht. Die Deutschen beklagen lieber ihre eigenen Toten als
diejenigen, die durch ihre Schuld umkamen. Sie fühlen sich zum Teil nicht einmal schuldig,
sondern noch als Opfer: Was haben sie nur alles während des Krieges mitgemacht, die
zahllosen Bombenangriffe, die schreckliche Evakuierung, Männer wurden getötet, Frauen
vergewaltigt, Kinder wurden zu Waisen. Es war in der Tat schrecklich, aber wem hatten sie das
17
O
alles zu verdanken? Sich selbst! Hätten die Deutschen nicht voller Überschwang „Hurra!“
geschrieen und Hitler und die Nationalsozialisten nicht gewählt, wäre uns viel erspart
geblieben. „Aber es schien zunächst lustvoll und herrlich zu sein, zum Volk der Auserwählten
zu gehören. Als die Alliierten deutsche Städte zerbombten, taten sie dies, weil Hitler ihnen
gedroht hatte „die Städte unserer Feinde auszuradieren“. (6) Es war, wenn man so will, reine
Notwehr, aber die Deutschen fühlen sich noch als Märtyrer.
Und wie war es mit dem Widerstand in Mönchengladbach und Rheydt bestellt? Angeblich
sollen damals 30 bis 40 Personen bereit gewesen sein, Juden zu unterstützen, sie zu
verstecken oder ihnen auf andere Art zu helfen. Das ist keine große Zahl in der ehemals
200.000 Einwohner zählenden Stadt. Dafür ist mir ein Fall persönlich bekannt: „Frau Stein“
war mitten im Winter auf der Suche nach Sommerkleidern. Ich konnte mir damals, in den 60er
Jahren, nicht vorstellen, wo man im Januar Sommergarderobe benötigte. Sie erzählte dann,
dass sie ihre Freunde in Israel besuchen wolle. Später erfuhr ich, hinter vorgehaltener Hand
natürlich, dass Herr und Frau Stein während des Krieges in ihrem Haus Juden versteckt
hielten. Obwohl die Gestapo mehrmals, durch Nachbarn denunziert, Hausdurchsuchungen
vornahm, wurden sie nicht entdeckt. Die jüdische Familie überlebte und siedelte nach Israel.
Eigentlich ist das eine völlig normale Handlung, dass man seinen Freunden hilft, wenn sie in
Not geraten, aber ansonsten habe ich von keiner weiteren Rettung in meinem Umfeld gehört.
Die Stadt Rheydt oder Mönchengladbach hat weder Orden noch Medaillen verteilt, obwohl
Herr Stein kein Unbekannter bei der Sparkasse war. Man vergaß, verdrängte, ignorierte.
Ich möchte hiermit dem Ehepaar Stein, ehemals vom Bäumchesweg, die beide längst tot sind,
ein Denkmal setzen!
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EINFÜHRUNG
Dieser Bericht ist besonders für die Jugend geschrieben. Sie ist unsere Hoffnung und
Zuversicht, sie ist offen und lernfähig. Sie wehrt sich gegen das Unrecht und weiß auch besser
mit der Vergangenheit umzugehen, wenn man sie das lehrt.
Waren es doch hauptsächlich Jugendliche, die die Kinosäle füllten, als „Schindlers Liste“
aufgeführt wurde. Leute, der Altersklasse zwischen 40 und 50, konnte man an einer Hand
abzählen. Und wenn ich Frauen und Mütter meines Alters befragte, ob sie sich mit ihren
Kindern den Film ansehen würden, bekam ich oft ausweichende Antworten: „Nach 50 Jahren
muss man doch endlich mal vergessen können“ oder „Das ist alles zu furchtbar, das will Ich
meinem Kind nicht zumuten“. Dabei sind die jungen Menschen mehr gefordert als man glaubt.
Ehekrisen, Scheidungen, Mord und Totschlag im Fernsehen, im Kino oder aber aus der Zeitung
mutet die Gesellschaft ihnen zu, aber ein Stück reale Vergangenheit nicht. Die Verbrecher des
Krieges, Die Grosseltern, wollen weder von dem Film, noch etwas von diesem Bericht
wissen, sie hüllen sich lieber in Schweigen und tun, als wüssten sie von nichts. Sie haben sogar
noch für alles eine Ausrede und viele Entschuldigungen. Anstatt dass die heute alten Männer,
z.T. Mörder von vielen tausend Menschen, weinend zusammenbrechen, ihre Taten zugeben und
bereuen, Einkehr bei sich selbst halten , sich als schuldig zu erkennen geben, fühlen sie sich
noch angegriffen und behaupten - und das wiederum nicht ohne Stolz - dass sie nur ihre
Pflicht getan haben. Ich finde das schwer zu verdauen!
Und wie war ich einst stolz auf „meine 68er Generation“ (und dass ich dazu gehörte). Ich hielt
sie (uns) für etwas ganz Besonderes, sie (wir) würden die Welt umkrempeln. Diese Bewegung
setzte sich für soziale Gerechtigkeit ein, für eine Neuorientierung in der Politik. Bei der 68er
Studentenbewegung spürte man die geballte Energie. Die Demonstranten lieferten sich
heftige Straßenschlachten mit der Polizei, wobei sie zum Teil sogar ihr Leben aufs Spiel
setzten. Ich war mir damals sehr sicher, dass die Welt in 25 Jahren großmütiger, selbstloser,
fairer und vorurteilsloser sein würde und nun ist dieser großartige Traum auf der Strecke
geblieben.
Ich, die ich 1967 aus der Provinz nach Berlin kam, konnte Rudi Dutschke „life“ erleben. Mir
war fast schwindelig inmitten tausender Studenten und vor Glück, dass ich selbst einmal im
Zentrum des Geschehens war. Von der damaligen Revolte ist nicht viel in die „Neuzeit“ über-
geschwappt. Wo sind die vielen Idealisten, Revoluzzer, Systemverbesserer, Sozialreformer, die
seinerzeit im Kampf um Gleichberechtigung den Aufstand geprobt haben, geblieben? Sollten
sie sich etwa in den Vorstandsetagen der Banken, Versicherungen und der großen Konzerne
versteckt halten?
Wo ist der Elan der 68er geblieben? Mir scheint, er ist im All verpufft. Von den großen Namen
ist mir nur noch der gewisse Herr Cohn-Bendit und ein anderer namens Fischer im
Gedächtnis haften geblieben! Der Mief von tausend Jahren - und nicht nur unter denTalaren-
ist an uns hängen geblieben.
Ich habe trotzdem schon frühzeitig versucht, aus meinen Kindern „Menschen“ zu machen, sie
auch über negative Dinge des Lebens aufgeklärt, über Krieg und Rassenhass und, dass es
ungerecht in der Welt zugeht, aber auch, dass jeder seinen Teil zum friedlichen Miteinander
beitragen muss. Dass man Mitmenschen hilft, wenn sie Hilfe benötigen und dass man teilt,
wenn andere zu wenig haben. Durch internationale Schulen, mit Schülern aus über 40
Nationen, haben sie Rassismus gar nicht erst kennen gelernt. Geschichte wurde an den
Schulen unserer Töchter intensiv behandelt. Ganz besonders haben sich die beiden Töchter
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für den 2. Weltkrieg interessiert. Deshalb schreckten sie auch nicht davor zurück, einen
Besuch in Polen, in die unliebsame Vergangenheit, zu machen. Wie soll man der Zukunft begeg-
nen, wenn man die Vergangenheit nicht kennt? Leider war es nur einer Tochter möglich mit-
zukommen.
Und so begannen wir unsere Rundreise durch Polen nur zu zweit.
LIDICE UND ORADOUR
Mein Kind, frag Deinen Vater, wo
er war, als Lidice und Oradour
im Brand sich krümmten, lichterloh.
Frag nach dem falschen Schlag der Uhr
bei Dir zu Haus und anderswo.
Den Lehrer frag: die Angelschnur
schlägt nach ihm aus. Der Wolf im Zoo
erschrickt vor Lidice und Oradour.
Dein Nachbar, der Geranien froh,
vergaß Euch, Lidice und Oradour,
das Feuerkind im Feuerstroh,
das Messer bei der Menschenschnur.
Vom Hut aus Filz, vom Korb aus Stroh
kein Pflaster schluckt die rote Spur.
Mein Kind, mach es nicht ebenso,
geh, lies von Lidice und Oradour. (Wolfgang Weyrauch) (29)
20
DIE POLENREISE
BRESLAU
Anfang Juli 1 994 machten wir - meine Tochter und ich - uns auf den Weg nach Polen.
Sie hatte gerade ihr Abitur bestanden. Nun wollten wir der jahrelang studierten deutschen
Geschichte des 2. Weltkrieges - wenigstens zum Teil - auf den Grund gehen. In Berlin-
Lichtenberg bestiegen wir den 20 Uhr-Zug nach Breslau. Unsere erste Etappe endete nach 6
Stunden Fahrt im Bahnhof von Wroclaw. Dort erwartete uns mitten in der Nacht ein
cleverer Taxifahrer, der uns ins sehr nahe gelegene Hotel Metropol fuhr und uns für die sehr
kurze Fahrt 10,- DM abnahm, unsere Koffer auf dem Gehweg abstellte und eilends davonfuhr.
Für ihn hatte sich das lange Aufbleiben in dieser Nacht doch noch gelohnt. Bevor er losbrau-
ste, erzählte er uns in gebrochenem Deutsch, dass Hitler schon in diesem Steinklotz von
Hotel zu nächtigen pflegte. Mit dieser überaus „beruhigenden Nachricht“ klopften wir an die
riesige und von innen verriegelte Holztür des „Gruselkabinetts“. Niemand öffnete, niemand
schien uns - sogar nach mehrmaligem Hämmern - zu hören. Da standen wir nun mit
unserem Gepäck, mitten in der Dunkelheit und der polnischen Sprache nicht mächtig. Mir
fielen die kriminellen Vergehen der Polen ein. In den Zeitungen stand immer wieder, Polen
stehlen alles, was nicht angebunden ist; sicher schrecken sie auch vor Mord nicht zurück.
Huschte da nicht ein Schatten vorbei?
Waren dort keine Geräusche? Jemand schlurfte mit Schlüsselgerassel zur Tür. Eine Matrone
zeigte uns verschlafen, jedoch recht barsch den Weg in unser Zimmer. Erschöpft von der
langen Reise betraten wir das Hotelzimmer; es war schmal, nicht besonders geräumig, einfach
eingerichtet, aber wir waren froh und dankbar ausruhen zu dürfen. Von dem grossen Fenster
aus konnten wir direkt auf die Oper und ins Zentrum blicken. Wir nahmen aber erst am
nächsten Morgen Notiz davon, als wir schon früh durch den Verkehrslärm geweckt wurden.
Zwischen den beiden Betten stand ein Fernseher, der mit seinen beiden Schwarz-Weiß-
Kanälen an die 50er Jahre erinnerte. Bevor wir uns abends auf die nachgiebige Matratze
legten, schlichen wir noch schnell über den unheimlichen Gang zu „Damski“, um uns für die
Nacht zu erleichtern. Der Rückweg wurde atemlos und im Laufschritt zurückgelegt, als wäre
uns Adolf, der „Gröfaz“ (größter Führer aller Zeiten) auf den Fersen.
KRAKAU
Nach 3 Tagen bestiegen wir den Zug nach Krakau. Nach 5 Stunden Bahnfahrt erreichten wir
diese schöne und historische Stadt. Wir ließen uns mit dem Taxi ins Hotel „Cracovia“ fahren.
Der rechteckige, starre Kasten sozialistischen Stils war bewohnt von internationalen, in der
Hauptsache aber amerikanischen Touristen. Unser Doppelzimmer wirkte wie eine Suite. In
einem Raum standen die beiden Betten und ein Schrank, in dem anderen schmalen Zimmer
war ein gemütlicher Aufenthaltsraum eingerichtet mit Couch, Sessel, Telefon und Fernseher
mit internationalen Kanälen. Hier hatten wir auch jeder unser eigenes Bad. Noch bei Tageslicht
wollten wir uns ein wenig umsehen. Am „Rynek Glowny“, dem Altstadt-Markt-Platz, kamen
wir aus dem Staunen nicht heraus: so viel alte Schönheit, hellen Glanz, Sauberkeit und
Atmosphäre hatten wir nicht erwartet. Die Straßencafes waren voll besetzt, Menschen rede-
ten, lachten, aßen. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg uns in die Nase. Auch wir waren
hungrig und suchten nach einem freien Platz. Junge, freundliche Menschen fragten nach
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unseren Wünschen. Es waren Studenten, die alle Deutsch und Englisch sprachen. Besonders
fiel mir ihre Höflichkeit und eine gewisse Zurückhaltung auf. Sie waren kein bisschen auf-
dringlich, schienen eher gehemmt. Dabei hatten diese jungen Leute es keinesfalls nötig, sich
vor anderen Europäern zu verstecken, denn sie sahen auch noch überdurchschnittlich gut aus.
Ihr bescheidenes Auftreten tat wohl, diese Eigenschaft ist leider vielen Jugendlichen in
anderen Ländern abhanden gekommen. Das Essen in diesem Straßencafe am Marktplatz
schmeckte genauso vorzüglich wie es aussah. Als dann noch herrlich drapierte frische Früchte
auf Eis an uns vorbei getragen wurden, konnten wir nicht widerstehen. Die Johannisbeeren,
Waldbeeren, Stachelbeeren, Brombeeren, alles was sich auf unserem Eisbecher türmte,
schmeckte so, wie ich es noch aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Zufrieden, gesättigt
und überrascht von so vielen positiven Eindrücken, lehnten wir uns zurück, um die Menschen
dieser Stadt und die Touristen zu beobachten. Junge Musikanten spielten auf, Folkloretänzer
bewegten sich harmonisch zur Musik, der Feuerschlucker ließ seine Fackeln im
Bongorhythmus tanzen. Amerikanische Besucher waren leicht auszumachen. Deutsche
erkannte man an den Socken in den Birkenstock Schuhen und den unverkennbaren
Trägerhemden, auch schreckten viele vor Schiessers unübertroffenem Netzhemd nicht
zurück. Ein junger Pole merkte, dass wir Deutsche waren und sprach uns hocherfreut an. Wir
unterhielten uns mehr als eine Stunde. Und gegen Ende der Unterhaltung lud er uns zu sich
nach Hause ein, ebenfalls in das Wochenendhaus seiner Eltern in Zakopane. Über so viel
Spontanität uns fremden Menschen gegenüber war ich erstaunt. Da aber der folgende Tag
schon verplant war, verabschiedeten wir uns voneinander. Krakau hatte uns sehr beeindruk-
kt.Von den Sehenswürdigkeiten, Schloss Wawel, dem Florianstor, der Tuchhalle, (eine histori-
sche Markthalle) dem Trompetenbläser auf dem gotischen Turm der Marienkirche, bekamen
wir herrliche Eindrücke und beschlossen sogar, irgendwann einmal, wiederzukommen.
AUSCHWITZ UND BIRKENAU
Am nächsten Tag wollten wir zu einem wichtigen Ziel unserer Reise, ins Konzentrationslager
,Auschwitz“. Zwar hatten wir viele Filme, Dokumentationsberichte und Fotos aus den KZ
gesehen, aber wir wollten die Restbestände des Grauens selbst auf uns einwirken lassen. Der
Bus, der uns in die mörderische und unbarmherzige Vergangenheit führte, wartete bereits vor
dem Hotel. Unter den ungefähr zwölf Leuten im Bus fiel mir sofort eine mir gleichaltrige
Deutsche auf. Sie war - genau wie ich - mit ihrer Tochter unterwegs. Die meisten Reisenden
waren Amerikaner. Ein älterer Herr mit weißem Bart, er schien in Israel beheimatet zu sein,
setzte sich von allen ab. Mit Sicherheit war er ein ehemaliger KZ-Häftling und besuchte nun,
nach fast 50 Jahren, die Stätte der brutalen Gewalt, der er sicherlich mit knapper Mühe und
Not entronnen ist. Wie schmerzhaft musste für ihn diese Erinnerung sein! Am nächsten
Morgen sah ich ihn wieder in der Frühstückshalle unseres Hotels. Wieder saß er alleine.
Traurig sah er aus. Wie gerne hätte ich mit ihm gesprochen, ihm Trost gespendet oder ihm nur
meine Hilfe angeboren, vielleicht einfach nur seine Hand gehalten - oder seinen Arm mit der
unauslöschlich eingebrannten Häftlingsnummer. Aber wie hätte ich mich als Deutsche
erdreisten können, diesen fremden Menschen anzusprechen?!
Die junge polnische Reisebegleiterin des Busses erklärte uns auf Englisch, was wir nach der
60 km langen Fahrt zu erwarten hätten. Erstaunt war ich, an diesem hellen Morgen schon
etliche Busse an der Gedenkstätte stehen zu sehen. Massen strömten in die
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Museumseinrichtungen. Bald war auch der Kinosaal mit Menschen gefüllt, und der
Dokumentationsfilm konnte beginnen. Ich war verwundert, wie viele Jugendliche sich für die
Vergangenheit interessierten. Junge Israelis konnte man an ihrer jüdischen Kopfbedeckung, der
Kipa, erkennen. Deutschsprechende Schulklassen bildeten Gruppen, man hörte die unter-
schiedlichsten Sprachen, bis der Film begann. Dann betretenes Schweigen, Trauer, Tränen, hier
und da ein unterdrücktes Schluchzen von Leuten, die wahrscheinlich ihre Familienangehörigen
in diesem Konzentrationslager verloren haben.Wie konnten wir als Deutsche überhaupt noch
erhobenen Hauptes durch die Gedenkstätte gehen? Hätten wir uns nicht vor Scham und
Schuldgefühl in die hinterste Ecke verkriechen müssen?
Die Besichtigung nahm ihren Lauf. Wir sahen die Koffer, die man den Neuankömmlingen gleich
abgenommen hatte, um den Inhalt zu konfiszieren. Hätten nicht auch Koffer von uns dabei sein
können? Hätte nicht irgendein fanatischer Idiot auch unserer Familienidylle ein Ende machen
können? Es ist schwer zu begreifen, dass Menschen aus Fleisch und Blut, wie Du und ich,
systematisch morden und zerstören und auch noch Buch darüber führen. Auch wir gingen
durch das Tor mit der Aufschrift , Arbeit macht frei“ wie schon so viele vor uns. Nachdem wir
schon einige Stunden im Museum von Auschwitz verbracht hatten. Berge von Koffern, Brillen,
Zahnbürsten, Kämmen gesehen hatten, standen wir vor den Beinprothesen. Eine rosa farbene
kleine Prothese hatte einem Kind gehört... Kiloweise lagen Haarbüschel aufgehäuft, die sich
durch die Vergiftung mit Zyklon B grau gelblich verfärbt hatten.Trotzdem waren die Haare für
Decken und Teppiche verwertet worden. Aus dem „Todesblock“ war keiner lebendig heraus-
gekommen. Nachdem die Todeskandidaten oft wochenlang gefoltert und gequält worden
waren, hat man sie einfach an die Wand gestellt und exekutiert.Wir glaubten, die Todesschüsse
noch zu hören. In den 20 Minuten Pause während der Besichtigung scharten sich die Besucher
um die Würstchenbuden. Uns war der Appetit von der Besichtigung gänzlich vergangen. Bei
30 Grad im Schatten waren wir jedoch froh, Wasser bei uns zu haben. Die Sommer der 40er
Jahre waren sicher nicht minder heiß, wie hatten die Gefangenen das ausgehalten? Sie
mussten sich den ganzen Tag mit schwerer Arbeit abplacken und hatten mit Sicherheit Durst,
trotzdem bekamen sie nur kleine Rationen an Flüssigkeit.
Wir konnten noch einen genüsslichen Schluck nehmen, bevor wir uns, wie bei einem
Betriebsausflug, alle im Bus versammelten. Nun folgte Teil II der Besichtigung: Birkenau. Nach
einigen Minuten sah man schon das bekannte Tor, die Zugschienen, die legendäre Rampe. Hier
hatte damals auch das lagereigene Orchester gespielt. Neuankömmlinge wurden mit Musik
begrüßt worden, bevor viele von ihnen gleich „ins Gas“ gingen. Sterben beim Radetzkimarsch.
Hier in Birkenau war per Daumenzeig über Leben und Tod entschieden worden. Viele
Zeugenberichte haben später die Dramen geschildert, die sich in der Warteschlange abge-
spielt haben. Manche Mutter hat ihr Kind verleugnet, um ihr eigenes Leben zu retten. Wenn
Kinder verzweifelt hinter ihren Müttern schreiend und weinend hinterherliefen, ließen sich die
Aufseher dadurch nicht ihr Programm durcheinander bringen, denn in der Masse hatte
Disziplin zu herrschen. So schossen sie ohne zu zögern den Störenfried nieder. Auch mit
Kranken oder Behinderten hatte es kein Erbarmen gegeben. Wenn Kinder ohnmächtig von
den Strapazen der langen Zugfahrt nur noch leise wimmerten oder zitterten, warf man sie
gleich auf den bereitstehenden Lastwagen, der für Tote reserviert war, denn „unnütze
Brotesser und minderwertige Elemente“ (7) wurden nicht geduldet. Hier also hatte „Tadeusz
Borowski“ (8) die Züge mit den vielen entstellten und verkrampften Leichen entladen. Hier
war es, wo er die Züge von Urin, Erbrochenem und Exkrementen säuberte. Obwohl er sich
ekelte und ihm der Geruch den Magen umdrehte, hoffte er, etwas Essbares zu finden. Obwohl
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dieser Mensch das KZ überlebte, konnte er mit dem wirklichen, realen Leben nicht mehr
zurechtkommen, er beging wenige Jahre nach seiner Rettung aus dem Lager Selbstmord, Wir
standen auf dem Wachturm von Birkenau und überschauten das ganze Lager. Hier allein waren
3 Millionen Menschen systematisch umgebracht worden.
AUSCHWITZ
Kalt und trüb ist noch der Morgen,
Männer gehn zur Arbeit hin.
Schwer von Leid, gedrückt von Sorgen,
Fern der Zeit, da sie geborgen.
Langsam wandern sie dahin.
Aber jene Männer dort
Bald nicht mehr die Sonne sehn.
Freiheit nahm man ihnen fort.
Welch ein grauenvoller Mord,
Dem sie still entgegen gehn.
Täglich hinter den Baracken
Seh ich Rauch und Feuer stehn.
Jude, beuge deinen Nacken,
Keiner hier kann dem entgehn.
Siehst du in dem Rauche nicht
Ein verzerrtes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn:
Fünf Millionen berg' ich schon!
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.
Täglich hinterm Stacheldraht
Steigt die Sonne purpurn auf.
Doch ihr Licht wird öd und fad.
Bricht die andre Flamme auf.
Denn das warme Lebenslicht
Gilt in Auschwitz längst schon nicht.
Blick zur roten Flamme hin:
Einzig wahr ist der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.
(Ruth Klüger) (9)
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„Das erste was man empfand, als man aus dem Zug stieg, war der beißende Geruch und die
ätzende, dicke - mit gelblichem Rauch geschwängerte - Luft“. (10) So beschrieb Ruth Klüger
ihren ersten Eindruck von Birkenau, den sie als Kind erlebte und bis heute nicht vergessen
kann. Bis auf den heutigen Tag nicht in der Lage ist, gebratenes Fleisch zu riechen oder zu
essen.
Wir besuchten nur die ersten Holzbaracken, in denen die Häftlinge zu hunderten auf
Holzpritschen gelegen hatten, und die nur mit etwas Stroh aufgefüllt waren. Oft waren sie
unter dem Gewicht der vielen Menschen zusammengebrochen. Toiletten gab es in Form von
langen Gestellen mit Löchern, ca. 50 Frauen (oder mehr) mussten gleichzeitig ihre Notdurft
im Eiltempo verrichten. Es gab weder Papier noch Seife, selbstverständlich auch keine
Hygienebinden für Frauen während der Menstruation, falls sie die überhaupt noch bekamen.
Dadurch, dass sie ständig am Rande des Verhungerns waren, blieb die Regel bald aus. Typhus
und Kolibakterien breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus, denn um die Hygiene war
es katastrophal bestellt. Ungeziefer wie Läuse, Wanzen und Flöhe hatten freien Eintritt und
seGten sich mit Genuss an Mensch und Holz fest. Man muss sich außerdem vorstellen, wie
bitterkalt es im Winter und wie brütend heiß es im Sommer in den Holzverschlägen war. Das
waren die grauenhaften äußeren Umstände, aber sie mussten auch Erniedrigungen,
Demütigungen, Spott und Schläge über sich ergehen lassen.
Als uns nun ein ehemaliger Häftling durch das Lager führte, uns die Funktionen der einzelnen
Holzhäuser erklärte und von den Gepflogenheiten der SS-Schergen erzählte, schrie eine Frau
aus unserer Gruppe auf. Obwohl sie vorher nur Englisch geredet hatte, quollen ihr un-
kontrolliert die deutschen Worte aus dem Mund, sie schrie, sie war verzweifelt, sie war außer
sich. Plötzlich müssen schreckliche Erinnerungen in ihr wach geworden sein, sie konnte sich
kaum beruhigen. Gerne hätte ich mit ihr geredet, sie getröstet und von ihren jammervollen
Erinnerungen mehr erfahren. Aber ich blieb wie versteinert stehen. Ich wollte sie mit meinen
Fragen nicht noch mehr quälen. Der alte Herr mit dem weißen Bart kam aus einer ganz
anderen Ecke zurück in den Bus und seGte sich an seinen alten PlaG in der hinteren Reihe.
Er konnte es wohl in der Gruppe nicht aushalten, er wollte lieber still für sich und ganz
alleine dieses furchtbare Trauma noch einmal durchdenken. Selbst nach einer halben Stunde
konnte sich die amerikanische Jüdin nicht beruhigen. Sie muss damals noch ein Kind gewesen
sein, höchstens zehn oder zwölf Jahre alt. Sie redete immer wieder mit sich selbst, dass sie nie
hätte hierher zurückkommen dürfen. Zu den Deutschen im Bus bekamen wir keinen Kontakt,
sie wirkten recht arrogant, aber vielleicht meinten sie das gleiche von uns.
WARSCHAU
Auf unserem Programm stand für den nächsten Morgen Warschau. Wir standen an diesem
herrlichen Sommersonntagmorgen schon früh am Bahnhof, der Zug fuhr pünktlich ein. Die
Eindrücke von Auschwitz und Birkenau hatten unsere Stimmung sehr bedrückt, so hing jede
ihren Gedanken nach. Ich schloss die Augen, horchte auf das Rattern der Räder. Der Zug hatte
an Geschwindigkeit zugenommen. Ich dachte an die verzweifelten Menschen, die damals in
umgekehrte Richtung fuhren - von Warschau nach AuschwiG... Und wie sie in den geschlos-
senen Viehwaggons kaum Luft bekamen, und dies bei einer Hitze von über 30 Grad, wie heute.
Sie müssen fürchterlichen Durst verspürt haben, den sie nicht stillen konnten. Da es keine
Toiletten gab, mussten sie ihre Notdurft dort verrichten, wo sie gerade standen. Und jedes
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Mal beim Einfahren in irgendeinen Bahnhof, als der Zug langsamer und der Rhythmus des
Ratterns länger brauchte, mag die Hoffnung der Eingesperrten gewachsen sein, bald aus ihren
Käfigen befreit zu werden. Die Fahrt ging jedoch erbarmungslos weiter. Ich dachte an die
vielen Juden, die ich im Laufe meines Lebens in den verschiedensten Winkeln der Erde
kennen gelernt hatte. Alle verband sie das gleiche Schicksal, sie alle hatten Verwandte, Freunde
und Bekannte verloren. Mir fiel die alte Dame in einem Bus von London ein, als ich sie nach
einer bestimmten Haltestelle fragte. Sie erklärte mir bereitwillig mit starkem Deutschen
Akzent, wie viele Haltestellen ich noch vor mir hatte. Auf meine Frage, ob sie Deutsche sei,
stand sie spontan von ihrem Sitz auf und verließ unter Murmeln, dass sie ihren fürchterlichen
Akzent wohl nie los würde, den Bus. Sie wollte sich auf keinen Fall länger mit mir unterhalten.
Vor meiner Ehe habe ich in Johannesburg gelebt. Dort hatte ich eine jüdische Kollegin
(Mrs. Markus), die mit ihrer Familie noch rechtzeitig dem Naziterror entfliehen konnte. Leider
konnte ihr Mann die Freiheit in Süd Afrika nicht lange genießen, er starb kurze Zeit später an
einem Herzinfarkt. So war seine Frau, die vorher nie berufstätig war, gezwungen, sich eine
Arbeit zu suchen, damit sie die Kinder und sich selbst ernähren konnte. Sie war mir gegen-
über immer nett und hilfsbereit, zog es aber vor. Englisch mit mir zu sprechen. Nie hat sie mich
zu sich nach Hause eingeladen.
Später lernte ich Eleonor Sella auf der Karibik-Insel Puerto Rico kennen. Unsere beiden
Männer wurden dorthin als „Expatriates“ von ihren jeweiligen Firmen eingesetzt. Während
mein Mann ganz Lateinamerika bereiste, war der Agraringenieur Eytan Sella mit neuen
Pflanzungen von Obst und Gemüse betraut. Unsere Töchter besuchten dieselbe Schule, Karin
und Natalie sogar in dieselbe Klasse. In den fünf Jahren unseres Aufenthaltes freundeten sich
die beiden Mädchen sehr an. So lernten wir auch ihre Eltern kennen. Nach vielen Begegnungen
und Gesprächen erfuhren wir vom Schicksal von Karins Großmutter, einer polnischen Jüdin,
die ihren KZ-Aufenthalt nur durch viel Glück überlebte und später nach Israel übersiedeln
konnte. Nachdem sie im Laufe ihres Lebens ihre Schreckensvisionen aus der Zeit im Lager an
ihre Kinder und Enkel weitergab, waren die verständlicherweise jedem Deutschen gegenüber
skeptisch. Trotzdem behandelte Eleonor mich freundschaftlich. Mir machten die vielen
Gespräche mit der quicklebendigen und mitten im Leben stehenden Frau sehr viel Vergnügen.
Ich hätte damals gerne mehr und intensiveren Kontakt zur ganzen Familie gehabt. Wir
planten auch gemeinsame Restaurantbesuche, die sich seltsamerweise nie verwirklichten. In
fünf Jahren ist es uns kein einziges Mal gelungen, gemeinsam mit der Familie etwas zu unter-
nehmen oder sie zu uns nach Hause einzuladen. Zwar schätzte Eleonor meine Backkünste,
trank auch gerne einen Kaffee, wenn sie ihre Tochter bei uns abholte, nahm gerne und
dankbar mein braunes, selbstgebackenes Brot mit nach Hause, aber zu einem näheren Kontakt
konnten sich Sella's nicht entschließen. Die Wunden saßen zu tief, der Schmerz über den
Verlust lieber Angehöriger war zu groß. Wir akzeptierten das.
Es gab viele jüdische Familien in San Juan de Puerto Rico. Eines Tages feierte Grant, ein
Mitschüler aus Karins und Natalies Klasse, seine Bar-Mitzwah (religiöses Ritual 1 3 jähriger
Jungen). Alle Schulkameraden waren zu diesem wichtigen Ereignis eingeladen. Die Mädchen
diskutierten noch eifrig, was sie zu dieser Festlichkeit anziehen sollten, als wir - mein Mann
und ich - überraschenderweise eine Einladung für die Feier in der Synagoge bekamen. Ich war
aufgeregt: nie zuvor hatte ich eine Synagoge betreten und hätte immer gern mehr über die
jüdischen Feierlichkeiten gewusst. Aber plötzlich spürte ich einen Druck im Magen: Konnte
man als Deutsche in ein jüdisches Gotteshaus gehen? Am besagten Termin war mein Mann auf
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einer Geschäftsreise, und mir war bei dem Gedanken, alleine in die Synagoge zu gehen, nicht
wohl. Zum Glück war Eleonor auch eingeladen. So machten wir uns mit unseren Kindern
gemeinsam auf den Weg zur feierlichen Zeremonie. In der Synagoge hatten die Kinder und
Jugendlichen einen gemeinsamen Platz. Ich verkroch mich mit Eleonor in die hinterste Ecke,
aber auch dort verfolgte mich mein schlechtes Gewissen. Alte Männer in schwarzen Roben
und langen weißen Bärten begrüßten mich auf das herzlichste mit ihrem „Shabbat Shalom“,
mit dem ich überhaupt nichts anzufangen wusste. Meine jüdische Begleiterin ließen sie links
liegen. Ausgerechnet mich, eine Tochter von Mördern und Verbrechern, begrüßten sie per
Handschlag. Während der dreistündigen feierlichen Handlung wütete in mir ein ungeheurer
Sturm an Gefühlen: Sollte ich aufspringen und mich als Nachfahre von grausamen Straftätern
zu erkennen geben, mich vielleicht hier in aller Öffentlichkeit entschuldigen? Ich saß da wie
versteinert. Äußerlich gelassen ging ich nach den Feierlichkeiten zum festlich geschmückten
Buffet. Dort begrüßte mich meine Gynäkologin, unser Zahnarzt machte seine Aufwartung,
vieler mir bekannter Personen hatten an dieser Bar-Mitzwah teilgenommen.
Eine andere sehr wertvolle Erfahrung machten wir, als derVater einer Klassenkameradin starb.
Wir waren alle sehr bedrückt und traurig, dass Berti ihren Vater so früh verlor. Ich sträubte
mich, die Witwe in ihrem Schmerz mit meiner Gegenwart zu behelligen. Man klärte mich auf,
dass es zu den Pflichten eines guten Juden gehört, die vor Kummer und Leid erstickenden
Überlebenden in ihrem Seelenschmerz nicht allein zu lassen. Um Trauernde kümmert man
sich fünf Tage und Nächte. Ständig müssen Freunde und Verwandte zugegen sein, und indem
der oder die Hinterbliebene redet oder weint, den Hergang des Sterbens so oft wie möglich
schildert, befreit und entledigt er oder sie sich von der Pein. Ich ließ mich zu einem Besuch
überreden, und wieder gemeinsam mit den Kindern gingen wir in das Haus des Verstorbenen.
Und ich glaube, sie haben Recht, die Juden. Während wir uns von den Trauernden abwenden,
uns zurückziehen, aus falschem Schamgefühl heraus - oder einfach, weil wir den Tod ver-
drängen, lassen wir die Hinterbliebenen in ihrem Leid alleine, obwohl sie gerade jetzt der Hilfe
bedürfen. Zwar kann der Schmerz über den Verlust einer verstorbenen Person nicht getilgt
oder vertrieben - aber er kann gelindert werden.
Leo hatte Glück gehabt. Noch bevor der Zweite Weltkrieg begann, setzte sich seine Familie
in die Vereinigten Staaten ab. Wir lernten Ihn in den 80er Jahren kennen, als er wegen
Geschäftsangelegenheiten bei uns anrief. Leider musste ich ihn mehrmals vertrösten, da mein
Mann ständig auf Reisen war. Bei jedem Gespräch fiel mir sein Akzent auf. Meine Tochter
meinte, er rede das typische New Yorker-Englisch; ich war anderer Meinung. Später, als wir ihn
näher kennen lernten, stellte sich heraus, dass wir beide aus derselben Stadt kommen. Obwohl
er bereits als Kind, mit 13 Jahren, Deutschland verließ, hat er in über 50 Jahren seinen
rheinischen Dialekt nicht verloren. Das trifft auch für seine Frau Lore zu, die ab und zu noch
in einen herrlichen Badener Akzent verfällt.
An all diese Menschen, an diejenigen, die heute noch unsere Freunde sind, an alle die, die im
KZ umkamen und an diejenigen, die das KZ überlebten, dachte ich, als wir mit dem Zug von
Krakau nach Warschau unterwegs waren. Der Zug lief pünktlich in Warschau auf dem
„Centralny“-Bahnhof ein. Dort erwarteten uns bereits unsere englischen Freunde, mit denen
wir fünf Jahre lang in Madrid Tür an Tür gewohnt hatten.
Auch in Warschau wollten wir der Vergangenheit auf den Fersen bleiben. In der Altstadt
besuchten wir das Heimatmuseum, das direkt am Marktplatz liegt. Hier konnte man sich in
einem Vorkriegsfilm vom Glanz und Schönheit, vom kulturellen Reichtum und von der
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einstmaligen Eleganz Warschaus selbst überzeugen. Was nicht im Bombenhagel unterging, ver-
wüsteten die Nazis in akribischer Kleinarbeit im Sommer 44. Warschau war zu 95 % zerstört.
Die Altstadt und das Schloss wurden nach dem Krieg wieder nach den alten
Architekturplänen aufgebaut. Auf dem Platz an derTlomackie Straße (ul. - ulicia = Straße), wo
einst die Synagoge stand, befindet sich heute ein moderner Glaspalast.
Nichts erinnert mehr an alte jüdische Tradition und Gläubigkeit. Auf der gegenüberliegenden
Seite der ehemaligen Synagoge befindet sich das jüdische Museum, in dem wir uns eingehendst
umschauten. Einer jüdisch-amerikanischen Gruppe wurde jedes Detail genau erklärt.
Tief beeindruckt und gleichzeitig entsetzt über so viel menschliche Rohheit waren wir vom
„Gestapohauptquartier“ in der Szucha Strasse, damals das einzige Gebäude, das von der
Zerstörung verschont blieb. Heute ist unter anderem das Bildungsministerium in diesem Bau
untergebracht. Die Kellerräume, in denen damals die Häftlinge gefoltert und gequält wurden,
sind heute noch zu besichtigen. Uns jagte es noch die kalten Schauer über den Rücken, als wir
lasen und auch sahen, welch grausame „Spiele“ mit den Inhaftierten getrieben wurden. Alle,
die die Gestapo für Agenten und Spitzel, also für Staats- und Volksfeindlich hielt, wurden von
SS-Männern barbarisch im „Reichsicherheitshauptamt“ zugerichtet und auf brutalste Weise
traktiert. Trotz der brachialen Gewalt haben manche Menschen Wochen oder auch Monate
diese Folter überlebt. Unmenschlich muss es auch im „Zug“ zugegangen sein. Dort saßen die
„Straftäter“ tagelang hintereinander auf Stühlen und mussten die Wand anstarren, sie durften
weder einschlafen, miteinander reden, noch sich bewegen. Bei Zuwiderhandlung hagelte es
Repressalien. An den Zellenwänden konnte man noch die mit dem Fingernagel eingeritzten
verzweifelten Inschriften erkennen. Eine junge Frau schrieb:
„Es ist leicht über Polen zu reden
schwer dafür zu arbeiten
es ist hart zu sterben
aber am schwersten ist es zu leiden“. (II)
Dies war der letzte händeringende Aufschrei einer 21jährigen, die noch ein ganzes Leben vor
sich gehabt hätte.
In der Schreibstube spürten wir förmlich noch die Nazi-Knute. Hier blickten die starren
Augen des „Führers“ auf uns herab. Eine alte Schreibmaschine stand einsatzbereit auf dem
Schreibtisch, der lange SS-Mantel hing an der Garderobe, und die Peitsche lag zum Gemetzel
bereit.
Viele, die im Gestapohauptquartier gefoltert wurden, schickte man anschließend ins Pawiak
Gefängnis. Dies war ebenfalls ein gefürchteter Ort, wo die Insassen keineswegs vor
Menschenschlächtern verschont blieben. Das Pawiak Gefängnis gehört mit zu den dunkelsten
Kapiteln Warschaus. Es ist als Museumsstätte eingerichtet, war aber in diesem Sommer wegen
Renovierung geschlossen.
Vom Warschauer Ghetto ist heute nichts mehr auszumachen. An diesem historischen Ort ste-
hen heute Plattenbauten. Sie lassen vergessen, dass hier einstmals tausende von jüdischen
Menschen lebten, die später - wenn sie nicht verhungert sind - verschleppt und ermordet
wurden.
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Nachdem das Warschauer Ghetto im Sommer 1 940 errichtet wurde, wohnten bereits ein Jahr
später fast eine halbe Million Juden hier, die aus allen Richtungen Polens zusammengetrieben
wurden. Durchschnittlich sechs Menschen lebten zusammengepfercht in einem Raum. Die
Ernährung war katastrophal, die tägliche Lebensmittelration lag unter dem Existenzminimum
und Tausende von Juden starben an Unterernährung. Da das Elend 1942 immer größer wurde,
schlossen sich die Juden des Warschauer Ghettos zu einer Widerstandsorganisation zusam-
men, der es gelungen war, Waffen und Munition in das Ghetto zu schmuggeln. Sie wehrten sich
gegen die unzumutbaren Lebensbedingungen und gegen die seit dem 20. Juli 1 942 erfolgten
Transporte in die Vernichtungslager, die zunächst nur die Arbeitsunfähigen, später willkürlich
Ausgewählte trafen.
Nach dem bewaffneten Aufstand vom 18. Januar 1943, befahl Heinrich Himmler am
16. Februar das Ghetto mit Waffengewalt zu räumen und völlig zu zerstören. „Dieser
Ausrottungsaktion setzten die Juden einen verzweifelten Widerstand entgegen, den die
deutschen Truppen erst nach einem Monat durch die systematische Zerstörung der einzelnen
Stadtviertel haben brechen können“. (12)
„Es gab ein letztes Aufbäumen der halb verhungerten und trotzdem wild entschlossenen und
um ihr Leben kämpfenden Juden, dann endete der Aufstand mit der vollständigen
Niederbrennung und Zerstörung des Ghettos durch die Einheiten der SS und der deutschen
Polizei. Bei der rücksichts- und erbarmungslosen Vorgehensweise gegen die sich verzweifelt
wehrenden Juden kommen im Frühjahr 1943 60.000 ums Leben“. (12a)
Martin Gray (13) beschreibt in seinem Buch „Der Schrei nach Leben“ („die Geschichte eines
Mannes, der die Unmenschlichkeit besiegte, weil er an die Menschlichkeit glaubte“) wie er in
dieser Region Warschaus aufwuchs, gelebt, geliebt, gelitten hat. Er setzte sein junges Leben aufs
Spiel, als man diese Zone zumauerte und er Lebensmittel, Medizin und Waffen ins Ghetto
schmuggelte, damit die an Hunger leidenden und kranken Menschen eine Überlebenschance
hatten. Seine Schilderungen muten mehr wie ein Kriminalroman an - oder die Tat eines
Lebensmüden! Es muss der helle Wahnsinn gewesen sein, ständig unerlaubt und unter
Lebensgefahr das Ghetto zu verlassen und anderen Menschen zu helfen. An den ehemaligen
„Umschlagplatz“ erinnert heute nur noch eine helle Marmorwand. In der Zamenhofstraße -
auf einem kleinen Platz - gibt es dann noch das gewaltige Denkmal, das zur Erinnerung an die
400.000 ermordeter Juden des Warschauer Ghettos übrig geblieben ist.
Wir haben uns in diesem heißen Sommer nicht nur mit den dunkelsten Seiten unserer
Vergangenheit beschäftigt, es gab auch viele Lichtblicke. Die herrlichen Schlösser und Parks
boten uns Erholung. Wir besichtigten Kirchen und Königspaläste, besuchten den Laziensky-
Park mit dem glanzvollen Schloss, eingebettet in einen See. Wir kamen am Frederik Chopin-
Monument vorbei und genossen die schatten spendenden Bäume. Wie schon so oft vorher
gelesen: der Sommer-Himmel über Polen ist tatsächlich weiß! Wir legten auch einen
Einkaufsnachmittag an der „Nowy Swiat“ (neue Welt) Strasse ein und stürzten uns mit den
Einheimischen in das Gewühl der Geschäfte. Auch das Wohnhaus der legendären Marie Curie
besichtigten wir. Da der „Wilanow-Park“ nur eine kurze Wegstrecke von dem Haus unserer
Freunde entfernt lag, besuchten wir ihn öfter. Wir erfreuten uns an den schönen hellen
Räumen des Palastes, bestaunten die kunstvoll geschmiedeten Drachen am Ende einer jeden
Dachrinne und genossen den Blick aus den geöffneten Fenstern in den gepflegten Park.
Manchmal suchten wir abends noch Abkühlung im Wilanow Park und beobachteten
Menschen, die sich von der Schwüle des Tages in nicht allzu klaren Seen erfrischten.
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Wir erfuhren von den Einheimischen, dass die Nazis versucht hatten auch dieses schöne
Bauwerk zu zerstören, denn man fand nach dem Krieg Sprengsätze im Mauerwerk, die wohl
aus Zeitmangel nicht gezündet wurden,
LUBLIN
Dann setzten wir unsere Reise in die Vergangenheit fort. In Warschau nahmen wir den Acht-
Uhr-Zug nach Lublin. Dieses Mal fuhr der Zug über die Weichsel zum Warschauer- Stadtteil
Praga. Hier also - jenseits des Flusses - hatte die sowjetische Armee im Sommer 1944
gelegen und zugesehen, wie die Deutschen Soldaten die Stadt Warschau systematisch
zerstörten... Einige Kinder und Jugendliche badeten im trüben Fluss in Ermangelung an
Schwimmbädern. Die gut dreistündige Fahrt verlief friedlich an endlosen Wäldern, kleinen
Seen und alten Bauernhöfen vorbei. Lublin war fast eine andere Welt. Wir hatten den
Eindruck, als seien wir schon über die Grenze nach Russland gefahren, und all zu viele
Kilometer waren es auch tatsächlich nicht mehr bis dorthin. Die Leute am Bahnhof sahen
ärmlich, fast „abgerissen“ aus. Lublin ist eine der östlichsten Groß-Städte Polens, eine
Industriestadt, die den Wandel zu einem etwas besseren Lebensstandard noch nicht geschafft
hatte. Majdanek war unser nächstes Ziel. Vom Bahnhof aus fuhren wir mit dem Taxi zu dem
etwa fünf Kilometer entfernt liegenden ehemaligen Konzentrationslager. Im Jahr zuvor hatte
ich diesem ehemaligen Lager einen Besuch abgestattet. Da mich dieser Ort hier tief beein-
druckt hatte, wollte ich ihn meiner Tochter zeigen. Im vergangenen Jahr hatte ich kein
Fotomaterial dabei und auf der Suche nach Literatur und Fotos wurde ich auch nicht fündig.
Heute war ich mit allem bestens ausgestattet. Majdanek liegt zu sehr abseits, als dass sich viele
Besucher hierher verirren würden. Keine Busse, nur drei bis vier Autos standen verloren auf
dem riesigen Parkplatzgelände. Die wenigen Besucher verloren sich auf dem weitläufigen
Areal. Am Eingang kann der Besucher ein großes, massives Monument betrachten, das
„Ehrenmal des Kampfes und Martyriums, Symbol der Tragik, der Hoffnung und des Sieges“.
Von einer bestimmten Stelle der Chaussee Lublin-Zamosc aus, kann man durch die Öffnung
des Denkmals den „Mausoleums-Tempel“ auf dem Hügel in etwa einem Kilometer Entfernung
sehen. Dort ruht die restliche Asche der verbrannten Häftlinge, die man nach der Befreiung
noch vorfand.Wir besichtigten die Baracken.Wir betraten die „Duschräume“ und sahen noch
gestapelte Bestände von „Zyklon B“. „Aus den erhaltenen, unvollständigen Dokumenten geht
hervor, das die internationale Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, kurz „Testa“ genannt,
von Oktober 1 942 bis zum Sommer 1 944 7.7 1 I kg Gift geliefert hat" (14) In einer anderen
Baracke türmte sich - hinter einem großmaschigen Drahtgeflecht aufbewahrt - Menschenhaar,
dass von tausenden Häftlingsköpfen stammte, die bei der Ankunft gleich geschoren wurden.
„Oswald Pohl teilte den KZ-Kommandanten in einem Geheimbefehl vom 6. August 1942 mit,
dass Menschenhaar zu Filz verarbeitet werde. Aus dem ausgekämmten und geschnittenen
Frauenhaar werde Garn gesponnen und zu Socken für U-Boot Besatzungen und zu
Filzstrümpfen für Eisenbahner verarbeitet“, (15)
In der nächsten Holzbaracke waren die Schuhe der Gefangenen hinter einem Drahtgitter
gestapelt. Hier lagen sie, die kleinen Grazilen, die Mittelgroßen und die Übergrößen. Schmale
Treter und breite Latschen, die einstmals hellen und die dunklen Schuhe, alle mehr oder
minder verschlissen und durcheinander geworfen. Auch wenn ihre Besitzer schon lange nicht
mehr lebten, so war der Geruch von Leder und Schweiß an ihnen haften geblieben und schlug
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uns bei der Hitze erbarmungslos ins Gesicht. Wie schon vor einem Jahr verspürte ich einen
Druck in der Magengrube.es würgte mich. Erbrechen wäre eine Erleichterung gewesen, diese
Übelkeit hielt noch über Stunden an. Ich dachte, man könnte sich bei mehrmaligen Besuchen
abhärten, womöglich abstumpfen, aber der Schmerz und die Trauer über so viele sinnlose
Morde blieben. Es revoltierte in mir - und so gewannen Übelkeit, Schmerz, Pein, Betrübnis und
Verzweiflung die Übermacht. Ich ließ sie gewähren!
Die Holzverschläge mit den Pritschen waren noch mit Stroh und alten Stoff-Fetzen bestückt.
Vögel nisteten nun darin und hatten es sich bequem gemacht. Im vergangenen Jahr hatte uns
ein Wärter in den hinteren Teil des Schlaftraktes geführt. Wir stiegen auch jetzt über die
hölzernen Ballustraden, beeilten uns, damit die morschen Bretter unter unserem Gewicht
nicht zusammenbrachen. Wir hasteten unerlaubterweise durch die Baracke Nr. 15 und
besichtigten die ehemaligen Waschgelegenheiten der hier gefangengehaltenen Geschöpfe; wie
riesige Steintröge sahen sie aus. Hier mussten sich Menschen säubern, die verschwitzt von
einem 15-stündigen Arbeitstag kamen oder die stundenlang beim Appell (zur
„Stärkemeldung“) im Morast gestanden hatten. In den Schlafbaracken hausten manchmal bis
zu tausend Leute, die sich alle in einem winzigen Waschraum reinigten, um nicht noch mehr
Ungeziefer oder Krankheiten zu bekommen. Hier kühlten sie ihre Wunden, und hier konnten
sie womöglich zusätzlich noch etwas trinken. „Das Lubliner Konzentrationslager, eines der
zuletzt errichteten großen Lager, wurde nie fertig gestellt. Die primitiven, überbelegten
Holzbaracken - ohne die elementarsten Einrichtungen - und die ständig eintreffenden
Häftlingsmassen bewirkten, dass die Unterbringungsverhältnisse menschenunwürdig waren“.
(16) Ursprünglich waren diese Holzverschläge für 250 Häftlinge vorgesehen, aber dann
mussten sich 500, 800 und manchmal 1 .000 Lagerinsassen ihre Unterkunft teilen, die weder
vor Nässe schützte, noch im Sommer die Hitze abhielt. Im Waschraum befanden sich - außer
den Steintrögen - ebenfalls ca. zehn braune Tonrohre, die aus dem Boden ragten. Sie dienten
den müden, kranken und ausgelaugten Menschen als Toilette. Privatsphäre gab es nicht.
Grausamer Höhepunkt war das Krematorium. Zwei Reihen von jeweils sechs Öfen sorgten
für „schnelle und effiziente“ Verbrennung. Waren doch deutsche Experten für hohe
Temperaturen, guten Luftabzug und für „schnelle Entsorgung“ verantwortlich. „Eine
Verbrennungsstelle fasste zwei bis fünf Leichen. Die Kapazität eines Ofens betrug etwa 1 00
Leichen pro Tag bei pausenloser Verbrennung. Die Verbrennung der Ladung eines Ofens
dauerte etwa eine Stunde". ( 1 7)
Vorher jedoch wurden die leblosen Körper noch auf Wertsachen untersucht. In einem
kleinen Raum mit Fenster, damit genügend Tageslicht auf die Kadaver fiel und man ja keine
Goldkrone übersah, wurden auf einem steinernen Seziertisch die Leichen gründlich unter-
sucht und kamen danach, vom Schlachtklotz, gleich nach nebenan in die Verbrennungsanlage.
Vor dem Eingang des Krematoriums waren rote Rosen gepflanzt, die gerade in ihrer vollen
Schönheit - wie zum Trotz - dastanden. Dieser Anblick tat wohl und gab Hoffnung. Das Wort
„Rosen“ hatte hier in Majdanek eine ganz besondere Bedeutung. „Die Auslese erfolgte auf
dem Platz vor der Gaskammer, der Rosengarten oder Rosenfeld genannt wurde. Die
romantische Bezeichnung bezog sich nicht auf Blumen, die es dort nicht gab, sondern auf die
Selektierten". ( 1 8)
Wir pilgerten zur großen Kuppel mit der restlichen Asche und Knochen der Märtyrer dieses
Lagers und ruhten im Schatten der Kuppel aus. Wir lauschten dem Gespräch dreier junger
Amerikanerinnen. Eine war ganz alleine mit dem Fahrrad in Polen unterwegs und besuchte die
Konzentrationslager, um später als Journalistin darüber zu berichten. Diese junge Frau hatte
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auch hier Familienmitglieder verloren und wollte nun etwas von derVergangenheit an Ort und
Stelle einfangen. Auch die anderen beiden Mädchen hatten Angehörige, die in diesem Camp
umgekommen waren, auch sie wollten sich vom grausamen Schicksal ihrer Verwandten selbst
überzeugen. Wir saßen schweigend da, jede hing ihren Gedanken nach. Ich dachte an Dr.
Simons, den guten Engel aus meiner Heimatstadt Rheydt, den ich nie kennen gelernt, aber viel
Gutes über ihn erfahren hatte. Selbst in der Gefangenschaft hat er seinen Mithäftlingen Mut
gemacht und Beherztheit gezeigt. Hier liegt er nun irgendwo anonym verscharrt. Am 15. Juni
1942 war er mit einem „Sondertransport“ von Düsseldorf nach Lublin deportiert worden.
(19) Vielleicht ist er am „Blutmittwoch“, dem 3. November 1943, umgekommen, an dem Tag,
den die SS „Erntefest“ nannten. Es lief eine landesweite „Säuberungsaktion“, die „Endlösung
der Judenfrage“. Die , Aktion Reinhard“ dauerte vom Frühjahr 1942 bis November 1943.
Danach waren fast alle Juden aus dem Lager verschwunden. (Übrig blieben u. A. Russen,
Rumänen, politische Häftlinge und Homosexuelle). An diesem einen Tag, dem „Blutmittwoch“,
am 3. November, kamen in Majdanek 18.000 Menschen ums Leben. An langen Gräben, die die
Häftlinge selbst ausheben mussten, wurden sie erschossen. Ein Teil der Leichen wurde später
auf riesigen Scheiterhaufen im Lager verbrannt. Mit der Asche der Ermordeten, die verbrannt
wurden, wurden Gemüsegärten gedüngt, größere Knochenteile zu Knochenmehl gemahlen.
Ich schaute auf die 8,80 Meter hohen Wachtürme, die alle 1 50 Meter aufgestellt waren. Es exi-
stierten 18 davon. Mein Blick fiel auf die „Todeszone“, ein fünf Meter breiter Streifen, einge-
zäunt in Stacheldraht, deren innerer Teil früher selbstverständlich unter Hochspannung stand.
In den „Todesstreifen“ hatte man Kies gestreut, damit die Menschengestalten bei nächtlicher
Beleuchtung besser sichtbar waren. ,AHe Sicherheitsvorkehrungen -Umzäunung, Wachtürme,
Blockführerstuben, Beleuchtung, Hochspannung, Bunker- sollten bei den Häftlingen jede
Hoffnung auf Freiheit vernichten und sie glauben lassen, dass der einzige Weg aus dem Lager
durch die Krematoriumsesse führe“. (20)
Auch in Majdanek hatten die Häftlinge Nummern. Anders als in Auschwitz trugen die
Gefangenen ein Metallschild mit eingestanzter Nummer an einem Draht um den Hals. Die
Nummern gingen nie weiter als 20.000, dann wurden sie wiederholt, die Neuankömmlinge
bekamen die Nummern ihrer toten Vorgänger. Dieses Rotationssystem bis 20.000 wurde für
Frauen und Männer getrennt angewandt. „Die Kennzeichnung der Häftlinge war, wie in den
anderen Lagern fast identisch. Politische Häftlinge bekamen einen roten Winkel, Bibelforscher
einen violetten, Kriminelle einen grünen. Sicherheitsverwahrte ebenfalls einen grünen, aber
mit der Spitze nach oben. Homosexuelle erhielten einen rosa und Asoziale einen schwarzen
Winkel. Juden trugen einen Davidsstern, der aus einem übereinander genähten gelben und
einem roten Dreieck bestand“. (21) Anhand der Dreiecke (Winkel) konnten die SA-
Blockfüh rer/Kapos, SA-Lagerleiter, SS-Rottenführer, SS-Sturmbann- und Obersturmbann-
führer, SS-Gruppenführer und Obergruppenführer.... schon von weitem sehen, mit wem sie es
zu tun hatten. Aber in allen Fällen knüppelten und schlugen sie auf ihre wehrlosen Opfer ein,
denn irgendetwas machten sie in ihren Augen immer falsch. Bis aufs Sterben war alles verboten.
Da die Lagerinsassen gezwungen waren täglich rund 1 5 Stunden zu arbeiten - und am Samstag
halbtags - blieb ihnen kaum Zeit für private Beschäftigungen. Ihre „Behausungen“ mussten in
Ordnung gehalten und ebenfalls für persönliche Hygiene gesorgt werden, soweit das über-
haupt möglich war. Trotzdem fanden sie noch Zeit - und das war für die Häftlinge überle-
bensnotwendig - sich von der öden Gleichmäßigkeit, vom grausamen Lagerleben abzulenken.
Es bildeten sich Theatergruppen, manche malten, und es entstanden Chöre in den
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verschiedensten Sprachen, da ja über 50 Nationen in Majdanek unfreiwillig versammelt waren.
Im Mai 1 943 führten gefangene Künstler die Arbeit einer Säule mit den drei Adlern aus, in
deren Fuß heimlich die Asche von Mithäftlingen eingemauert wurde. Diese Säule wurde zu
einem beispiellosen Ehrenmal für die ermordeten Menschen. Natürlich war uns diese
Gedenksäule bei unserem Besuch auch aufgefallen. Es gab namhafte Maler, Bildhauer,
Schauspieler, Musiker, sie alle konnten ihrer Kunst nicht viel Zeit widmen, lediglich einige
Minuten vor dem Morgen - oder nach dem Abendappell. Der Sonntag blieb ihnen als einzig
freier Tag. Vieles war ihnen zwar verboten auszuführen, aber mancher Lagerführer war stolz,
berühmte Künstler in seiner Gruppe zu haben. Bei vielen Häftlingen machte sich Lesehunger
bemerkbar, sie hätten für Lektüre gerne auf eine Ration Brot verzichtet. Bücher oder
Zeitungen waren jedoch im Lager strengstens verboten. Aber auf irgendeine Art wurde immer
wieder Lektüre eingeschmuggelt. Was den Insassen von Majdanek ein Buch bedeutete, davon
zeugen Äußerungen damaliger Häftlinge: „Nichts vermag so den Schmerz zu mildern, die
Verzweiflung zu betäuben und Vergessenheit zu geben, wie ein gutes Buch“. (22)
Am I. April 1944 wurde das Lager evakuiert, alle Insassen, die verzweifelt um ihr Überleben
gekämpft hatten, sich mit Kultur ans Leben klammerten, deren Lebenswille sie Monate und
Jahre Hunger, Schläge, Demütigungen hatte überleben lassen. Diese armen Menschen
entkamen nach so vielem Leid dem Tod in Majdanek, hatten die Freiheit vor Augen, um dann
letztendlich doch noch in Auschwitz ermordet zu werden.
Vor uns lag der lange und sonnen beschienene Weg zum Ausgang mit dem gigantischen
Denkmal. Auch der mit Stacheldraht gesäumte „Hohlweg“, der ehemalige Todesstreifen,
führte in diese Richtung. Links von uns lagen friedlich die dunklen Baracken. Ich hatte den
Eindruck, sie waren seit dem vergangenen Jahr weniger geworden. Hinter den finsteren und
Unheil verkündenden, in Reih und Glied stehenden Baulichkeiten konnte man in ca. 5
Kilometer Entfernung die Silhouette der Stadt Lublin erkennen. Rechts von uns, direkt im
Anschluss an das Lager, haben die Lubliner ihre Toten zur letzten Ruhe gebettet. Ich dachte
plötzlich an Musik. Von hier oben, der obersten Stufe der Mausoleums-Treppe, müsste man
der 360.000 ermordeter Menschen gedenken, möglicherweise mit einem Orff'schen Chor,
der die Erde ringsherum erzittern ließe. Oder sollten die traurigen Klageweisen einer
Klezmer-Klarinette den ganzen Jammer um den Erdball tragen? Zumindest aber bis nach
Deutschland, eisig Vaterland, zu hören sein.
Beklommen und bedrückt verließen wir das jetzt so friedliche Gelände und machten uns zu
Fuß auf den Rückweg nach Lublin. Wenigstens ein Stück wollten wir im Geiste mit den
Gefangenen gehen. Wir fragten uns, wie menschliche Wesen einander so viel Leid zufügen
können. Aber leider gibt es noch heute Gefängnisse, in denen auf die gleiche menschen-
verachtende Weise gefoltert und misshandelt wird. Und wie erklärte Mitscherlich in der
„Unfähigkeit zu trauern“: „Es gibt offensichtlich keine natürliche angeborene Rücksichtnahme
aus Menschlichkeit. Der Unterlegene wird zur Beute ungehemmter Mordgier... Der Ekel, den
die Nazipropaganda gegen die Juden zu erwecken bestrebt war, setzt diese Manipulation fort:
Die Juden wurden als „Ungeziefer“ wahrgenommen. Ungeziefervernichtung ist erlaubt und
darf konfliktfrei geschehen“. (23) Und da die Nazis den Befehl von oben hatten und sie ihrem
„Führer“ nur zu gern gefällig sein wollten, schlachteten und metzelten sie. „Die Präzision
unseres Gehorsams wurde gebührend erprobt, und der fast grenzenlose Wille, uns den
Hoffnungen des Führers würdig zu erweisen, durfte ausschweifen... Das
Ausrottungsprogramm, das ohne den begeisterten Einsatz des Kollektivs gar nicht hätte
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begonnen werden können, muss erschrecken“. (24) Es ist sehr schwierig, all das nachzuvoll-
ziehen, aber eines ist sicher: „Das alles das, was geschah, geschehen konnte, ist nicht allein das
Ergebnis mirakulöser Führungsqualitäten, sondern ebenso eines unglaublichen Gehorsams“.
(25) Es ist fast unmöglich, sich solch eine Massenhysterie, wie sie zur Nazizeit vorgekommen
ist, vorzustellen. Während wir noch hin und her diskutierten und argumentierten, taten uns
die Füße weh, Beine und Handgelenke schwollen bei der sengenden Gluthitze an und wir
hatten erst zwei, höchstens drei Kilometer zurückgelegt. Wir gaben auf, wir wollten uns nicht
länger kasteien und suchten nach einem Taxi, das uns in die Innenstadt brachte. In der Altstadt
ließen wir uns an einem schattigen Platz nieder und ruhten unsere erschöpften Glieder aus.
Sehr anheimelnd war diese Altsstadt nicht, die Gebäude waren renovierungsbedürftig. Auch
hier, auf diesem Platz, haben in den Kriegstagen Erschießungen stattgefunden. „Verräter und
volksfeindliche Individuen“ (26) wurden standrechtlich erschossen. Wir konnten uns nur zu
gut vorstellen, wie in diesem Gemäuer die Schüsse hallten und die Toten in ihren Blutlachen
lagen. Aber so triste wie wir fanden die heutigen Bewohner Lublins ihren Rathausplatz nicht,
denn es herrschte ein munteres Kommen und Gehen von jungen Brautpaaren, die sich im
20-Minuten-Takt trauen ließen. Wir haben mindestens vier bis fünf Pärchen beobachtet, alle
festlich herausgeputzt, die Bräute manchmal in den schönsten Pastellfarben. Wir waren durch
die vielen Eindrückemüde und bedrückt. Wir verspürten nicht mehr den Wunsch, die Burg von
Lublin zu besichtigen. Auch dort hielt man Menschen gefangen, die gefoltert und später
ermordet wurden. In der Lubliner Burg wurden unter der faschistischen Besatzung 80.000
Menschen inhaftiert.
Es ist kein Wunder, dass die Polen nicht gut auf uns Deutsche zu sprechen sind. Wir zerstör-
ten nicht nur ihre Häuser, hinterließen Ruinen und gebrochene Herzen. An vielen polnischen
Frauen wurden medizinische Experimente durchgeführt. Wir nahmen ihnen Väter und Söhne
und ließen sie dann in ihrer unendlichen Verzweiflung und Misere alleine zurück. Viele Polen
wurden gezwungen in deutschen Firmen Zwangsarbeit zu leisten. Von Entschädigungen oder
Unterstützung haben die Menschen bis heute nichts gesehen.
Während unserer Rückfahrt nach Warschau ereignete sich folgendes: Eine Frau mittleren
Alters, die wohl gerade von der Arbeit kam, setzte sich zu uns ins Abteil. Auf unser freund-
liches und wohl recht original klingendes „Dzien dobry“ (guten Tag) antwortete sie mit einem
Redeschwall, den wir natürlich nicht verstanden. Als wir uns als Deutsche zu erkennen gaben,
sprach sie kein Wort mehr mit uns und würdigte uns während der ganzen Fahrt keines wei-
teren Blickes.
Die letzten Tage in Warschau gingen schnell vorbei. Am I. August 1994 machten wir uns auf in
Richtung Bahnhof, vorbei am Ehrenmal der gefallenden Menschen des Warschauer Aufstandes,
der vor genau 50 Jahren stattgefunden hatte. Der Warschauer Aufstand vom I. August 1944
dauerte 63 Tage. Hitler war so erbost über den Widerstand, dass er Befehl gab, die ganze Stadt
zu zerstören. 80 Prozent der Häuser wurden zerbombt, der Rest von den Flammen verzehrt.
Im Jahre 1945 waren 850.000 Bewohner Warschaus tot oder vermisst, das waren zwei Drittel
der Einwohner von 1 939. Und heute Abend sollten die Gedenkfeierlichkeiten stattfinden. Dies
sollte auch die erste offizielle Reise des neu gewählten Deutschen Bundespräsidenten, Roman
Herzog, sein. An diesem Abend musste er in aller Öffentlichkeit Profil zeigen, diese erste
,Amtshandlung“ war sicherlich kein leichter Beginn für den neuen Mann an Deutschlands
Spitze. Wir jedoch wollten uns darauf beschränken, ihn abends im Fernsehen zu verfolgen und
stürzten uns ins Gewühl des „Centralny“-Bahnhofs (Hauptbahnhof) und warteten geduldig auf
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den Zug, der uns an die Küste, nach Danzig, bringen sollte. Auch in Polen schien Hauptreisezeit
zu sein, auf allen Gleisen liefen Züge aus den entferntesten Gegenden ein, es herrschte ein
reges Treiben und ein munteres Stimmen- und Sprachengewirr,
DANZIG ZOPPOT GYDINIA
Ein sympathischer Endvierziger und seine Mutter teilten das Abteil mit uns. Er erzählte aus
seinem Leben bei „Solidarnosc“. Er war ehemaliger intimer Mitarbeiter Lech Walensas und
hatte im Untergrund gearbeitet. Als dann Anfang der 80er Jahre die Situation heikel wurde,
floh er von Danzig ins Ausland. Er verbrachte nun 1 3 Jahre in Amerika, genau in New Orleans.
Dies war seine erste Reise in die Heimat. Heute war er mit seiner alten Mutter von Radom
nach Gdynia unterwegs, um Verwandte zu besuchen. Wir unterhielten uns äußerst angeregt
auf Englisch, während die Mutter aus der Kriegszeit im Gefangenenlager in Norddeutschland
noch recht gut Deutsch sprach. Sie arbeitete für eine deutsche Firma als Zwangsarbeiterin.
Obwohl sie keine angenehmen Erinnerungen an diese Zeit hatte, war sie uns gegenüber recht
freundlich und aufgeschlossen. Plötzlich ertönte eine Durchsage, die wir natürlich nicht
verstanden. Man übersetzte uns, dass der Zug mit einiger Verspätung in Danzig ankommen
werde, da durch die Erhitzung der Schienen die Geschwindigkeit gedrosselt werden müsse.
Nach einiger Zeit suchten wir Kühlung am offenen Fenster. Wir sahen riesige, frisch abgeern-
tete Kornfelder. Dieses endlose Gelb tat nicht nur den Augen wohl, es legte sich auch wie ein
beruhigender Schleier auf das Gemüt. Das erst vor kurzem geschnittene Getreide war in
vielen Garben zusammengebunden und lehnte in kleinen Gruppen aneinander. Keine Maschine
hatte hier das Korn zu rechteckigen Paketen gequetscht - oder in riesigen Rollen geformt, es
sah noch genau so aus, wie ich es aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Gegen Ende der
Reise kamen wir an der Stadt Malbork vorbei und sahen vom Zug aus die Marienburg, die
monumentale mittelalterliche Festung der deutschen Ordensritter (das weckte auch
Erinnerungen unseligen Gedenkens). Bald stiegen wir in Gdynia aus. Auch unser bärtiger
Freund verließ mit seiner Mutter das Bahnhofsgelände, nach einer kurzen Verabschiedung
verloren wir uns aus den Augen.
Im Hotel Gdynia hatten wir ein recht schönes Zimmer mit Blick auf den Hafen. Am Sonntag
besichtigten wir Gdansk und wandelten auf den Spuren „Oskar Matzeraths“. Ich war tief
beeindruckt von den schönen alten Kirchen, den herrlichen Backsteinbauten und den
Kaufmannshäusern, die während des Krieges völlig zerstört und später originalgetreu wieder
aufgebaut worden waren. Natürlich erstanden wir eine Kleinigkeit in der „Bernsteingasse“. Bei
der Fülle an schönen und geschmackvoll gearbeiteten Stücken war die Entscheidung schwer.
Der „Lange Markt“ mit seinem barocken Neptunbrunnen gehört zu den schönsten Plätzen
Europas. Hier herrschte an diesem Hochsommer-Sonntag ein reger Betrieb. Menschen
verschiedenster Nationen waren unterwegs. Das Wahrzeichen der alten Hansestadt, das
Krantor, erkannte ich gleich. Auf alten Fotos hatte ich es bereits gesehen. Wir kamen in dem
Gewühl nur langsam voran, doch plötzlich befanden wir uns auf dem Flohmarkt. Hier lagen
Hakenkreuze, Nummernschilder alter SS-Fahrzeuge, jede Menge Naziliteratur und
Kultsymbole Rechtsradikaler. Am liebsten hätte ich den ganzen Nazi-Krempel aufgekauft und
auf irgendeiner Müllkippe verbrannt. Wir ließen jedoch den Händlern ihren gefährlichen Tand
und Firlefanz und gingen weiter.
35
Ganz in der Nähe ist das ehemalige KZ Stutthof zu besichtigen. Hier fanden 85.000 Häftlinge
aus den verschiedensten Ländern den Tod. Auch Hilde Sherman (geb. Zander) aus Rheydt
sollte nach der Auflösung des Lagers in Riga nach Stutthof verlegt werden. Da aber Anfang
1945 die Sowietarmee bereits auf dem Vormarsch war, wurden sie zunächst von Riga nach
Libau gebracht. Von dort aus ging der letzte Transport mit dem Kohlenfrachtschiff „Elbing“, das
die Häftlinge noch mit Stahlhelmen beladen mussten, in Richtung Hamburg, wo dann diese
wenigen noch überlebenden hungernden und kranken Menschen - ein Schatten ihrer selbst-
in das Gefängnis Fuhlsbüttel gebracht wurden. Vom 14. bis 17. April 1945 wurden jüdische
Häftlinge von Fuhlsbüttel nach Kiel transferiert - zu Fuß versteht sich. Sie schliefen unterwegs
bei den Bauern in den Scheunen. Als die ausgelaugte und müde, fast gespenstisch aussehende
Menschengruppe die Bauern um Wasser bat, stellten sie sofort und anstandslos Gefäß, Kübel
und Trinkbecher den durstigen und ausgemergelten Juden zur Verfügung. Verrückt vor Durst
wollten sie sich auf das Wasser stürzen, aber ein Kommando der SS verbot ihnen zu trinken.
„Die SS stieß die Eimer und Töpfe um, das Wasser floss auf die Strasse. Dann geschah das
Unbegreifliche: Die Leute am Straßenrand fingen an zu murren, erst leise, dann lauter, schließ-
lich ertönten RufeiVerbrecher, Mörder, Schweinehunde! Die SS traute ihren Ohren nicht, Hals
über Kopf trieben sie uns weiter“. (27) Dann dauerte es noch einmal 14 Tage, bis Hilde
Sherman in Schweden in Freiheit war. Sie wanderte sieben Monate später nach Kolumbien
aus. Sie war damals 22 Jahre alt und erreichte kaum noch lebensfähig den südamerikanischen
Kontinent.
Nach Danzig stand Zoppot auf dem Programm. Seit dem 1 9. Jahrhundert ist Zoppot ein welt-
bekannter Bade- und Kurort. Der einstige Arzt Napoleons, Jean Haffner, hat hier 1823 eine
Badeanstalt gebaut. Wir gingen in Richtung Strand. Ein langer Seesteg ragte weit ins Meer
hinein. Von hier aus hatte man einen prachtvollen Blick auf das ehemals elegante und hoch
herrschaftliche Grand Hotel. Wir pendelten einige Tage zwischen den Städten Gdansk, Sopot
und Gdynia und machten nette und witzige Bekanntschaften. Einige junge Leute sprachen uns
an und ließen uns spüren, dass sie nichts, aber auch rein gar nichts gegen Deutsche haben. Es
freute uns, dass sie den Mut hatten, uns anzusprechen. Dann kam der Tag, an dem wir dieses
gastfreundliche Land mit den liebenswürdigen Menschen verlassen mussten. Der Abschied
stimmte uns traurig, aber wir würden sehr gerne wiederkommen, um noch viele neue Seiten
am alten Polen zu entdecken.
36
NACHWORT
In der Zwischenzeit gab und gibt es viele Kriege auf der Welt, niemand scheint etwas aus dem
fürchterlichen Blut vergießen des Zweiten Weltkrieges gelernt zu haben, wo insgesamt
40 Millionen Menschen den Tod fanden.
Der augenblickliche Krieg in Jugoslawien, wo es wieder nur unschuldige Opfer gibt, dort wo
wieder gefoltert und gemordet wird, lassen einen an der Menschlichkeit zweifeln. In Gedenken
der Kriegsopfer - und zur Beherzigung aller Überlebenden ist das Gedicht von Matthias
Claudius gewidmet.
Kriegslied
's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre.
Und rede Du darein!
's ist leider Krieg - und ich begehre
Nicht Schuld daran zu sein!
Was soll ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blass
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen
Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten.
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?
Wenn tausend, tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammleten und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?
Was hülf mir Krön und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
's ist leider Krieg - und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
(Matthias Claudius, 1 740 - 1 8 1 5)
37
KZ Auschwitz
Birkenau
Museum Majdanek - Lublin
-1JI
If J
Hi,
Schlafstätten
Toiletten
Seziertisch
Eingang zum Krematorium, der Rosengarten genannt wurde
Gestapo Hauptquartier/Warschau
DAS WARSCHAUER GHETTO
PRACA PRZYMUSOWA
Di[ m iiiisdr HfBiicfiociiiiii smo yfiPiiicHKi sich
tH [KIlMItlill »C H)«lini(H..6.-. MOIItillS i.NElDiN
um povotiiiit7oPiitcr timm jesi shvicsie
PUNKTUALNIE06-RANO wDNtU WYZNACZONYM .
■
LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
1
1
■
1
Josef Marszalek, Majdanek / Konzentrationslager Lublin,
Verlag Interpress, Warschau 1984
1
1
2
Chronik der Deutschen, Chronik Verlag, Harenberg Kommunikation
Verlags- und Mediengesellschaft GmbH und CO. Kg, Dortmund 1 983
■
1
2a
ebenda
3
ebenda
1
3a
ebenda
1
4
Günter Erckens, Juden in Mönchengladbach, Gesamtherstellung:
Peter und Walter Pies, Reyerstrasse 42-44 Mönchengladbach
1
5
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern.
R. Piper und Co. Verlag, München, 1970
1
6
ebenda
1
7
Jösef Marszalek, Majdanek / Konzentrationslager Lublin,
Verlag Interpress, Warschau 1984
1
8
Tadeusz Borowski
1
9
Ruth Klüger, weiter Leben - eine Jugend, DTV GmbH und Co. Kg, München, 1994
■
10
ebenda
1
1 1
Section of Museum of History of Polish Revolutinary Movement, Warschau,
Aleja Wojska Polsiego 25, Drukarnia im. Rewolucji Pazdziernikowej, Warschau,
1981
1
1
12
Chronik der Deutschen, Chronik Verlag, Dortmund 1983
■
12a
ebenda
1
13
Martin Gray, Der Schrei nach Leben, Goldmann Verlag, 1993
1
14
Jösef Marszalek, Majdanek / Konzentrationslager Lublin,
Verlag Interpress, Warschau, 1984
1
15
ebenda
1
16
ebenda
■
56
1
1
1 7 ebenda
18 ebenda
19 Günter Erckens, Juden in Mönchengladbach, Gesamtherstellung:
Verlag- und Mediengesellschaft GmbH und Co Kg, Dortmund 1 983
20 Josef Marszalek, Majdanek / Konzentrationslager Lublin,
Verlag Interpress, Warschau 1 984
2 1 ebenda
22 ebenda
23 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern,
R. Piper und Co. Verlag, München, 1970
24 ebenda
25 ebenda
26 ebenda
27 Hilde Sherman, Zwischen Tag und Dunkel,Verlag Ullstein GmbH,
Frankfurt, 1984
28 Matthias Claudius, Das große deutsche Gedichtbuch, Athenäum Verlag, 1977
29 Wolfgang Weyrauch, Das große deutsche Gedichtbuch, Athenäum Verlag, 1977
Fotonachweis:
Ingrid Decker
Josef Joseph mit Familie - Auszug aus dem Buch: Juden in Mönchengladbach
Goebbels-Fotos - aus dem Buch „Goebbels, eine Biographie“ von Ralf Georg Reuth
Fotos vom Warschauer Ghetto stammen aus einem polnischen Buch mit dem
Namen „Ghetto“
Postkarte eines Dali-Gemäldes aus dem Madrider Museum „Reyna Sophia“
57
DIE JUGENDJAHRE
DER
ELISABETH KOCH-THAU
Dies ist die etwas andere Überlebensgeschichte einer Jüdin,
die die Kriegsjahre in dem von den Deutschen besetzten
Frankreich - unter den widrigsten Umständen - überlebt
hat. Beherzt und unerschrocken nahm sie jede Heraus-
forderung an und anstatt sich zu verstecken nützte sie ihr
arisches Aussehen und begab sich in die „Höhle des Löwen“,
aus der sie zum Glück wieder heil heraus kam.
Frau Elisabeth Koch verdankt nicht nur einigen deutschen
Soldaten ihr Leben, sie hat es größtenteils sich selbst zu
verdanken, denn nur durch ihr geschicktes und diploma-
tisches Auftreten, ihr angenehmes Äußeres und ihre
liebenswerte und hilfsbereite Art, hat sie die Herzen der
„Feinde“ im Sturm erobert. Trotz allem gehörte zum
Überleben eines jeden Juden während der Nazizeit eine
gehörige Portion Glück - und daran hat es Frau Elisabeth
Koch nicht gemangelt.
I
Im letzten aufflammenden Novembergefecht des Jahres 1918, nur wenige Tage vor dem Ende
des Ersten Weltkrieges, wurde Elisabeth Koch in dem von Deutschland besetzten Teil Polens,
am 7. November in Kolomea, geboren. Ihr Vater hatte ihr wieder und wieder von ihrer
dramatischen Geburt erzählt, die unter den widrigsten Umständen stattfand. Beim letzten
Schussgefecht des Novemberaufstandes hatte der Vater die Hebamme aufgesucht, beide
kamen unter Lebensgefahr doch noch rechtzeitig zur Geburt ihrer ersten und einzigen
Tochter zu Hause an. So begann Ellis Leben auf dramatische Art und Weise, doch das Glück
war stets auf ihrer Seite.
Der Vater, Karl-Michael Koch, war Leutnant und lernte im deutsch besetzten Polen seine Frau,
Berta Klinger, die Tochter eines Rabbiners, kennen. Sie verliebten sich sehr ineinander und
heirateten kurze Zeit später. 1916 wurde ihr erster Sohn, Felix, geboren. Nach Kriegsende
nahm Karl-Michael seine polnische Frau und die beiden Kinder mit in seine Heimatstadt Wien,
wo er sein Studium der Physik, Chemie, Mathematik und Philosophie wieder aufnahm. Er war
zunächst Professor an einem Wiener Gymnasium und später an der Universität. In Wien
wurde 1922 der jüngste Sohn, Fritz, geboren. Die Familie lebte, wenn auch bescheiden, so doch
zufrieden, denn das Gehalt des Professors war nicht besonders üppig, jedoch der nächste
Weltkrieg kündigte sich schon bald an.
Ferien gab es nur ab und zu, und dann nur für die Buben. Der Vater fuhr mit ihnen nur
wenige Kilometer aus Wien heraus aufs Land. EIN legte keinen großen Wert aufs Verreisen, sie
liebte ihre Stadt Wien, vor allem liebte sie es, in der Nähe ihrer Mutter zu sein, zu der sie eine
starke Bindung und eine sehr enge Beziehung hatte. Der Kontakt zum Vater war nicht sehr
intensiv, denn er war ein strenger, gebieterischer und konsequenter Patriarch. Ein Beispiel
dafür war, dass er sie bestrafte, weil sie Linkshänderin war. Sie musste bei den gemeinsamen
Mahlzeiten an einem Extratisch sitzen und so lange üben, bis sie mit der rechten Hand den
Löffel, die Gabel oder das Messer halten konnte. Es war eine Zeit der Qual. Die Eltern rieben
sich unnötig an vielen Kleinigkeiten auf. Bis heute benützt EIN ihre linke Hand zum Schreiben
oder Essen, alle drastischen Maßnahmen haben nicht gefruchtet - außer Unfrieden zu stiften.
Auch die Freizeitbeschäftigung musste sinnvoll gestaltet werden. Vergnügungen, wie Kino,
wurden als sinnloser Zeitvertreib angesehen und im Hause Koch nicht geduldet. Den Kindern
wurde erlaubt Schach zu spielen oder Kreuzworträtsel zu lösen, denn lernen stand immer an
erster Stelle.
Während der Vater sich intensiv seinen Schülern widmete und sich ausgiebig mit der
Wissenschaft beschäftigte, die Kunst und die klassische Oper liebte, war seine Frau Berta eher
eine „Hühnermutter“, eine Glucke, die lieber bei ihren Küken blieb. Sie war auch keine
Intellektuelle und fühlte sich im Kreise der aufgeblasenen und wichtigtuerisch erscheinenden
Gesellschaft nicht wohl. Berta Koch war eine gut aussehende und sehr bodenständige Frau,
jedoch keineswegs ein Kind von Traurigkeit, im Gegenteil, sie tanzte sehr gerne und war in der
Lage, stundenlang Witze oder Anekdoten zu erzählen. Den Kindern schien es wenig
auszumachen, dass ihr Vater oft unterwegs war, denn er behandelte sie meist, als seien sie noch
drei weitere Schüler aus seiner Klasse.
Die Jahre vergingen, alle Kinder bekamen eine erstklassige Ausbildung. In den BOerJahren
wurden die Zeiten unruhiger. Berta Koch spürte früh ein drohendes Unheil durch die neue
Partei - NSDAP - kommen. Ihr waren die unbekannten Politiker und ihre Anhänger nicht
geheuer. Als die Tochter sich mit siebzehn Jahren in einen nicht jüdischen Schulkameraden
verliebte - ihre große Liebe - versucht die Mutter, ihr diese Freundschaft auszureden. Solche
2
Verbindungen seien nicht von Dauer. Und seit Hitler an der Macht war, machte sich der
Antisemitismus jeden Tag stärker bemerkbar. 1 935 wurde ein Dekret erlassen, das Mischehen
mit Juden verbot. Durch die Nürnberger Gesetze wurden 1 935 den Juden alle staatsbürger-
lichen Rechte entzogen. Ehen und außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen Juden und
,Ariern“ wurden verboten. Berta Koch machte sich zu Recht Gedanken um die unglückliche
Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen Mann, die von vornherein zum Scheitern verurteilt
war. Sie wollte ihrer Tochter jede Art von Kummer oder Erniedrigung ersparen, denn sie hatte
Angst, dass sie als „Saujüdin“ womöglich noch verfolgt würde. Aber welcher junge Mensch
lässt sich mit siebzehn Jahren schon gerne in sein Liebesieben hineinreden? Die jungen
Verliebten schmiedeten Zukunftspläne, sie stellten sich bereits vor, wie ihre Kinder aussehen
würden und verbrachten jede freie Minute miteinander. Auch der Vater betrachtet diese
Verbindung sehr sorgenvoll und war sich mit der Mutter einig, Elli für einige Zeit zu
Verwandten nach Metz, zur Schwester von Ellis Mutter, zu schicken, damit die stürmische
Verliebtheit der jungen Leute durch räumliche Trennung ein wenig gedämpft würde.
Elli verließ ihr Elternhaus schwerere Herzens. Hatte sie doch bereits Pläne und Ideen - aber
die einer Träumerin - geschmiedet. Nun überlegte sie ob sie zur Universität gehen sollte oder
ob sich vielleicht der König von England in sie verlieben würde, eventuell würde sie gar noch
als Filmstar entdeckt...?
Und so begab sich Elli auf ihre erste große Reise - ganz alleine - ins Ausland. Mit Frankreich
verband sie in Gedanken Paris, davon hat sie gehört und auch schon Fotos gesehen. Als sie
nun in Metz ankam, in eine Provinzstadt, war ihre Enttäuschung riesengroß. Zwar bemühte
sich die Familie sehr um Elli und sie wurde wie eines der drei eigenen Kinder behandelt. Onkel
und Tante führten ein bedeutendes Möbel- und Dekorationsgeschäft, waren gut situierte
Leute und finanzielle Sorgen gab es nicht. Obwohl Elli haben kann, was ihr Herz begehrt, hatte
sie Heimweh nach ihrer Mutter und nach Wien. Sie vermisste ihre Nähe, ihre Stimme, ihren
Rat und ihren Trost, vor allem trauerte sie ihrer großen Liebe nach.
Nach einigen Monaten hielt Elli es nicht länger aus, sie wollte zurück nach Wien. Die Tante half
beim Kofferpacken. Als sie am nächsten Morgen in aller Frühe das Haus verlassen wollten,
fanden sie Flugblätter mit Informationen, die besagten, dass Hitler bereits seine Truppen in
Österreich hatte einmarschieren lassen. Am nächsten Tag, dem 1 3.3.38, wurde der Anschluss
Österreichs an das Deutsche Reich verkündet. Unter diesen Umständen konnte Elli
Frankreich nicht mehr verlassen. Ihre Situation im Haus ihrer Verwandten hatte sich
schlagartig geändert: Von nun an war sie kein Gast mehr, sondern ein Flüchtling.
Die Verwandten setzten Elli zu, dass sie ihren taubstummen Sohn, ihren Cousin, heiraten soll-
te. Durch diese Ehe sei sie Französin und hätte nichts mehr zu befürchten, außerdem könnte
sie dann ebenfalls ihre Mutter nach Frankreich holen. Zwar hatte der taubstumme Sohn zu
diesem Zeitpunkt eine ebenfalls taubstumme Freundin, aber die Familie zog die junge,
hübsche, wohlerzogene und gesunde Frau als Schwiegertochter vor. Elli konnte nun das Gefühl
nicht loswerden, dass sie von Anfang an als Schwiegertochter auserkoren war. Die politische
Krise, durch den Anschluss Österreichs, kam ihren Verwandten gerade recht. Da die
französische Ausländerpolizei Elli, die nun über Nacht Deutsche war, nur wenig Zeit zur
Ausreise gab, sah sie keinen anderen Ausweg, als ihren behinderten Vetter zu ehelichen.
Heimlich weinte sie sich die Augen aus. Todunglücklich dachte sie an den jungen Mann, den sie
in Wien zurückgelassen hatte, hoffte, er werde sie noch in letzter Sekunde aus den Fängen des
ungeliebten Bräutigams retten. Ihr Wiener Freund hatte aber nichts Eiligeres zu tun, als sich
3
den Nazis anzuschließen und im großen Pulk mitzumarschieren. Er kümmerte sich weder um
Ellis Brüder, noch um die Eltern seiner Angebeteten. Nach dem Krieg jedoch wollte er Elli
heiraten. Alle Gräueltaten, die das Nazi-Regime angerichtet hatte, jede unterlassene
Hilfeleistung, der Hass und die Verfolgung auf Juden, all das schien plötzlich vergessen. Dabei
hatte sich der junge Wiener nicht einmal die Mühe gemacht, Elli in Frankreich ausfindig zu
machen. Wie hätte Elli solch einem Mann noch Vertrauen schenken können?
Tante und Onkel richteten ein hinreißendes Hochzeitsfest aus, es wurde an nichts gespart.
Freunde,Verwandte und Geschäftsleute wurden zu dieser rauschenden Feier eingeladen. Der
einzige unglückliche Mensch bei diesem sonst fröhlichen Ereignis war die Hauptperson. Der
für jede andere Frau „schönste Tag im Leben“ war für die junge - jetzt heimatlose Elli - ein
Alptraum, schrecklicher Höhepunkt in einem jungen Leben.
Wie Elli später erfuhr, konnte sie froh sein, dem Wien 1938 nach der „Reichskristallnacht“
entflohen zu sein. Frauen und Mädchen mussten sich nackt ausziehen, sie wurden
vergewaltigt und gedemütigt, sie wurden gezwungen die Strassen zu säubern und waren
Spielball der Nazis. Elli hätte diesen Schock in ihrer Unerfahrenheit, Unaufgeklärtheit und
Unschuld nicht überwunden.
Zum gleichen Zeitpunkt, nach der „Kristallnacht“, im November 1938, nachdem die
Ausplünderung der jüdischen Geschäfte begonnen und Massenverhaftungen und die ersten
Deportationen stattgefunden hatten, machte sich Felix Koch, der Leutnant bei der Armee war,
mit zwei Kameraden aus Wien heimlich auf den Weg nach Luxemburg. Sie waren nur des
Nachts unterwegs, sie schwammen durch die Mosel und auf abenteuerliche Weise erreichten
sie ihr Ziel Luxemburg.
Während Elli und ihr älterer Bruder Felix im Ausland vorläufig gerettet waren, lebten die
Mutter und der jüngere Bruder noch in Wien. Der Vater, Karl-Michael Koch, hatte die Familie
verlassen und floh nach Russland. Er hofft, dort als Wissenschaftler mit kommunistischen und
idealistischen Ideen, eine Arbeit zu finden. Berta Koch, die sich in Wien in einem Keller bei
Bekannten versteckt hielt, meldete sich auf Vorladung der Behörden nicht. Fritz Koch, noch
Schüler, wurde fast verhaftet, weil ein Mitschüler ihn denunzierte, mit der Begründung, er habe
aufs Hitlerbild gelacht. Mit anderen Verhafteten kam er in ein Sammellager, in dem sich die
Insassen gegenseitig schlagen mussten. Ein Polizist, der Fritz kannte und ihn wohl auch
mochte, ließ ihn frei mit dem Rat, so schnell wie möglich nach Hause zu rennen.
Elli wollte nun auf dem raschesten Weg ihre Mutter und den jüngeren Bruder aus Wien holen.
Durch die Heirat besaß sie einen französischen Pass und wurde von nun an „Madame Thau“
genannt. In Metz lernte sie einen Senator kennen, der mit ihrer Familie befreundet war. Der
versprach Elli, alles zu tun, um ihre Mutter nach Frankreich zu holen. In der Zwischenzeit
erfuhr sie, dass sich ihr älterer Bruder Felix in Luxemburg aufhielt, von nun an besuchte sie
ihn so oft sie konnte. Da Luxemburg von Metz aus in kurzer Zeit mit der Bahn zu erreichen
war, brachte sie ihm Essen mit und erzählte von ihrer unglücklichen Ehe mit dem Cousin. Die
Geschwister schmiedeten Pläne, wie sie ihren jüngeren Bruder aus Wie holen könnten.
Doch eines Tages überschlugen sich die Ereignisse. Felix verdiente sich in Luxemburg bei
einem Bauern ein paar Pfennige. Dieser entpuppte sich jedoch nach kurzer Zeit als Nazi-
Sympathisant und hängte ein Hitlerbild auf. Als der Bauer erfuhr, dass sein Gehilfe Jude war,
jagte er ihn schimpfend davon. Felix beschwerte sich zwar bei der Behörde, die ihrerseits den
Bauern verklagen wollte. Aber Felix riet dringend davon ab, denn durch eine Beschwerde
hätten Schwierigkeiten und Verzögerungen bei der Einreise des jüngeren Bruders nach
4
Luxemburg entstehen können. Die Verwaltung genehmigte und forcierte die Einreise des
Bruders Fritz nach Luxemburg - und schon kurze Zeit später war es soweit. Elli kam eilends
aus Metz angereist, um ihren kleinen Bruder am Bahnhof in Empfang zu nehmen. Sie suchte
nach einem Jungen, konnte aber keinen entdecken, bis eine tiefe Stimme sie plötzlich von
hinten ansprach: „Servus Ella“. Vor ihr stand ein hoch gewachsener, schlaksiger, junger Mann,
den sie fast nicht wieder erkannt hätte. Die Freude war übergroß, zumal Fritz die Adresse des
neuen Verstecks der Mutter mitbrachte.
In Luxemburg waren zu dem Zeitpunkt schon etliche jüdische Flüchtlinge untergekommen.
Zwei Hotels wurden ihnen zur Verfügung gestellt, die für Frauen und Männer getrennt waren.
Die Frauen kümmerten sich um das Essen und die Wäsche und erledigten alle anfallenden
Hausarbeiten, die für die beiden jüdischen Unterkünfte, nötig waren.
Im Frühjahr 1940 begann die „Westoffensive“. Die deutsche Armee verletzte bei ihrem
Vormarsch ins nördliche Frankreich die Neutralität der Staaten Belgien, Niederlande und
Luxemburg. Am 4. Juni 1940 ging die „Kesselschlacht“ von Dünkirchen zu Ende, und bereits
Mitte Juni standen die deutschen Truppen in Paris. Die Kapitulation der neutralen Staaten und
die Eroberung des Kessels von Dünkirchen beendete die erste Phase des Westfeldzugs.
Elli, ihr taubstummer Mann, ihr Onkel, die Tante, Cousin Charles, Cousine Regine und einige
andere Verwandte steckten drei Tage und Nächte im stärksten Bombenhagel im Keller fest
und wussten nicht, ob sie je noch lebend herauskommen würden. Nach diesem gewaltigen
Bombenangriff war die Stadt total verwüstet, überall stiegen Rauch- und Feuersäulen auf. Sie
saßen mitten im Chaos, und aus Angst vor den deutschen Soldaten floh die jüdische Familie
Thau in den Westen Frankreichs. Sie beluden ihren Lastwagen mit Waren aus dem Geschäft,
um unterwegs davon leben zu können, und ließen sich zunächst in Vittel nieder. Dort lagerten
sie die Gegenstände ein und suchten nach einer Unterkunft. Doch schon nach kurzer Zeit
erreichte die deutsche Armee auch diesen Teil Frankreichs. Erneut fielen Bomben, und es blieb
ihnen nichts anderes übrig, als weiter in den Westen zu fliehen. Sie wollten nach Bordeaux,
denn dort hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits viele jüdische Flüchtlinge eingefunden.
Dort fand die Familie Thau eine bescheidene Unterkunft.
Während des Vorrückens der deutschen Armee in den mittelfranzösischen Raum und der
Eroberung der gesamten Kanal- und Atlantikküste, verließ die französische Regierung Paris
und zog sich nach Südfrankreich zurück. Der berühmte Badeort Vichy wurde von 1940 - 44
Sitz der Regierung Petain. Nach dem Zusammenbruch der französischen Armee - Ende Juni
1940 - (21.6.1940) Unterzeichnete eine französische Delegation im Auftrag des Marschalls
Phillippe Petain den Waffenstillstand. Dieser Waffenstillstand zerteilte das französische
Staatsgebiet in eine besetzte Zone entlang der nördlichen Küste und in ein unbesetztes
Gebiet im Süden und Südwesten des Landes.
Die Familie Thau lebte nun in einem von Deutschen besetzten und verwalteten Gebiet. Die
Nazis verloren auch hier keine Zeit ihre Gräueltaten fortzusetzen. Als erste „Amtshandlung“
demolierten und plünderten sie jüdische Geschäfte. Die Juden mussten nun auch hier einen
Judenstern tragen. Auf ihre Pässe und Kennkarten wurde ein „J“ für „Jude“ gestempelt. Und
schon bald fuhren auch von Frankreich aus die Deportationszüge in die Konzentrationslager.
Elli, die „arisch“ aussah — mit ihren blonden Haaren und blauen Augen — war immer darauf
bedacht, dass man das Goldkreuz an ihrem Hals sah. Sie weigerte sich strikt einen Judenstern
zu tragen und ließ sich auch nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Eines Tages gab sie
an, ihre Papiere verloren zu haben und bekam einen neuen Ausweis ausgestellt. Ihr Geburtsort
5
war jetzt mit Wien und ihre Religion mit katholisch angegeben. Mit diesem neuen Dokument
und ihrem .Arischen“ Aussehen schien sie gerettet zu sein.
Zu diesem Zeitpunkt hatte EIN keine Ahnung, wo sich ihre Brüder und ihre Mutter aufhielten.
Eines Tages, die Hungersnot war sehr groß, machte EIN ihrem Onkel den Vorschlag, bei der
deutschen Kommandantur einen Passierschein zu beantragen, damit sie nach Vittel reisen und
dort die eingelagerte Ware aus dem Depot holen könnten. Dem Onkel war nicht besonders
wohl bei dem Gedanken. Da sie aber kaum noch etwas zu essen hatten, die Kleidung
zerschlissen war, ließ er sich auf das abenteuerliche Wagnis ein. Bei der Kommandantur
konnte EIN den jungen diensthabenden Soldaten durch ihre Art überzeugen und er stellte
sofort und wohlwollend zwei Passierscheine aus. Mit dem einen fuhren Onkel und Nichte mit
dem Lieferwagen nach Vittel, mit dem anderen reiste sie alleine nach Metz weiter. Unterwegs
bekamen sie anstandslos Benzin und gelangten mühelos und ohne Schwierigkeiten nach Vittel.
In der kleinen Stadt Zentralfrankreichs erfuhren sie, dass die Nazis alle Güter beschlagnahmt
und mitgenommen hatten. Sollte der lange Weg und die vielen Anstrengungen umsonst gewe-
sen sein? In der Kommandantur verlangten EIN und ihr Onkel ihr Hab und Gut zurück. Dort
jedoch wollte man die beiden Bittsteller abwimmeln und erklärte ihnen, die Ware sei kein
Privateigentum mehr, sondern gehöre jetzt dem deutschen Staat. Da kannten sie EIN nicht, sie
kämpfte wie eine Löwin. Letzten Endes gestand man ihnen zu, die vorhandenen Gegenstände
direkt an Ort und Stelle an Wehrmachtsangehörige zu verkaufen. Da dies aber mehr als zwei
Tage in Anspruch nahm, fuhr EIN mit dem zweiten Passierschein nach Metz und hoffte, noch
einiges an Ware aus dem Geschäft mitnehmen zu können. Dort stand noch alles so da, wie sie
es verlassen hatten, aber die deutsche Wehrmacht hatte die Türen versiegelt, alles war
beschlagnahmt. Auf EINs Anfrage, was mit den Dingen geschehe, riet man ihr sehr vorsichtig zu
sein und keine Forderungen zu stellen, sonst sei sie an der Reihe... So schnell wie möglich
machte sie sich auf den Rückweg, denn Elsass-Lothringen war inzwischen Deutsch geworden.
Zurück in Vittel war der Verkauf der Ware recht gut vorangegangen. Die wenigen Stücke, die
übrig geblieben waren, nahmen sie mit nach Hause. Die Deutschen hatten nun vor, das Geld
vom Erlös der Ware, nach Bordeaux zu überweisen, womit sich EIN aber nicht einverstanden
erklärte. Sie verhandelte so lange, bis sie mit dem Bargeld in der Tasche endlich zurückfahren
konnten. EINs Onkel war mächtig stolz auf seine geschäftstüchtige Schwiegertochter. Nun
konnte die sechsköpfige Familie endlich wieder die notwendigsten Dinge einkaufen und
brauchte so schnell nicht wieder zu hungern.
EIN mied die Cafes, die nur für Juden bestimmt waren, denn hier konnten die Nazis jederzeit
Zuschlägen. Eines Tages ging sie mit ihrer, um einige Jahre jüngere Cousine Regine in ein
„normales“ Cafe, an dem ein Schild stand „Für Juden Zutritt verboten“ und forderte wieder
einmal das Schicksal heraus. Die Tante ermahnte EIN beim Weggehen noch: „Wie kannst Du
ohne Judenstern ausgehen?“ Worauf EIN erwiderte: „Wie könnte ich mit Judenstern
ausgehen?“. Die beiden jungen Frauen setzten sich im Cafe an einen Tisch, bestellten Kaffee
und Kuchen und EIN merkte, wie sie die Aufmerksamkeit dreier deutscher Offiziere auf sich
zog, die am Nebentisch saßen. Einer von ihnen kam an EINs Tisch und obwohl sich EIN mit
Regine auf Französisch unterhielt fragte er sie, ob sie Deutsche sei. EIN war erstaunt und
erschrocken zugleich und wollte wissen, wieso er das annehme. Er gab ihr unverblümt zu
verstehen, dass die Art, wie sie sich hingesetzt hatte, sehr deutsch sei. Von diesem Tag an
änderte EIN ihr „Hinsetz-Gebaren“,denn als Deutsche durfte sie keinesfalls auffallen. Sie schlug
von nun an die wohlgeformten Beine dekorativ übereinander, ließ den Rocksaum ein paar
6
Zentimeter höher rutschen und zündete sich beim Hinsetzen eine Zigarette an. Von jetzt an
war sie die „Grande Dame“, und man verwechselte sie nicht mehr mit einer Deutschen. Als
der junge Offizier von Elli wissen wollte, was sie in Bordeaux mache, sagt sie ihm direkt ins
Gesicht, sie sei Jüdin, dass sie sich ständig verstecken müsse, da sie von den Deutschen gejagt
und verfolgt würde. Sie sagte ihm auch, dass sie ein menschenunwürdiges Leben führe und kei-
nerlei Rechte besäße. Aus tiefstem Herzen hoffte sie, dass die Deutschen den angezettelten
Krieg verlieren mögen. Denn sie führten ja keinen Krieg gegen Länder, sondern gegen eine
Rasse und Religion, dabei könnte sie weiß Gott nichts dafür, dass sie als Jüdin geboren wurde.
Eine Partei suche man sich aus, aber die Herkunft und den Glauben könne man nicht selbst
bestimmen. Und da sie nun mal das Pech habe, Jüdin zu sein, sei ihre Zukunft der sichere Tod.
Dieser junge Soldat hätte für Elli gefährlich werden können. Vielleicht haben ihn ihre Worte,
ihr energisches Auftreten, ihre ganze Erscheinung beeindruckt. Jedenfalls hat er sie nicht
verraten.
Während der ganzen Zeit war Ellis einziges Sinnen und Trachten, ihre Mutter nach Frankreich
zu holen, denn die Nazis hatten schon schrecklich in Österreich gewütet. Charles, Ellis
jüngerer Vetter, war bereits mit seinen damals 12 Jahren sehr geschäftstüchtig und suchte sich
bei den deutschen Soldaten auf der Strasse Übersetzungsjobs. Da er auch blond und
blauäugig war, schöpfte niemand Verdacht, dass er jüdisch sein könnte. Er vermittelte auch Elli
eine Stelle in einem Tabakladen, wo sie dolmetschte. Natürlich fanden die jungen Männer
Gefallen an der hübschen Blondine und hätten sie gerne eingeladen. Aber jedes Mal erfand sie
eine andere herz zerreißende Geschichte, um sich der jungen Soldaten zu entledigen.
Manchmal erzählte sie von ihren drei Kindern, die sie versorgen müsse, ein andermal sprach
sie von ihrem verwundeten Mann, den sie zu Hause zu pflegen hätte. Jedem tischte sie eine
andere Variante ihrer Geschichten auf, um nicht mit ihnen ausgehen zu müssen. Das Risiko, als
Jüdin erkannt zu werden, war einfach zu groß. Zwar konnte sich Elli in dem Laden ein paar
Franc dazuverdienen, die zu Hause auch sehr willkommen waren, andererseits verstrickte sie
sich immer mehr in neue Schauer- und Lügengeschichten, dass sie selbst nach einer Weile
nicht mehr auseinander halten konnte, wem sie was erzählt hatte. Als ihre Situation zu heikel
wurde, gab sie ihre Tätigkeit auf.
Jemand gab ihr einen Tipp, dass ein Spanier eine Schreibkraft mit Deutschkenntnissen suchte.
Sie bewarb sich sofort und war genau die richtige Person für ihn. Der Spanier kaufte
waggonweise Obst und Gemüse auf und verkaufte es an die Deutschen. Die patriotischen
Franzosen hingegen weigerten sich, den Deutschen nur irgendetwas an Gütern zu verkaufen.
Elli stellte die Rechnungen auf Deutsch aus, das ersparte dem Spanier die lange Wartezeit der
Übersetzung und er konnte sofort sein Geld kassieren. Der Spanier machte während dieser
Zeit sehr gute Geschäfte, und Elli lebte auch nicht schlecht davon. Als erstes kaufte der neue
Chef Elli eine Uhr, damit sie pünktlich zum Dienst erscheinen konnte. Auch fehlte es jetzt
nicht mehr an neuer Garderobe, die Elli sehr zu schätzen wusste, denn ihr Gehalt war
fürstlich. Es hatte sich bis zu dem Spanier herumgesprochen, dass in Bayonne ein kleines
Geschäft existierte, das vom Schwarzhandel lebte. Er bat Elli eines Tages, doch einmal
mitzukommen, sie könne dort auch etwas für sich und ihre Familie einkaufen. Elli nahm die
halbstündige Bahnfahrt nur zu gern in Kauf, denn die halbverhungerte Familie war dankbar für
alles, was Elli mitbrachte. Nach ungefähr drei Wochen bat der Spanier Elli nochmals, ihn nach
Bayonne zu begleiten. Elli freute sich, dass sie der Familie wieder etwas mitbringen konnte. Im
Bahnhof von Bayonne standen einige Waggons auf dem Abstellgleis, die von einem
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französischen Soldaten mit Maschinengewehr bewacht wurden. Auf Ellis Befragen, was es mit
den Eisenbahnwagen auf sich habe, antwortete der Aufpasser, dass sich in diesem Zug Juden
aus Luxemburg befänden, die er bewachen müsste, da sie das Gelände nicht verlassen
dürften. Beim Stichwort „Juden aus Luxemburg“ spitzte Elli die Ohren. Sie bat den Soldaten
nachschauen zu dürfen, ob nicht „ihre große Liebe“, die sie in Luxemburg hatte, dabei sei -
und von der sie so plötzlich getrennt wurde. Der dienstbeflissene Waffenträger verneint, es
seien doch Juden, außerdem, wenn die Deutschen das erführen, sei er seinen Posten los. Doch
Elli ließ nicht locker, mit ihrem süßen Lächeln, den himmelblauen flehenden Augen, stimmte sie
schließlich den Wachmann um. Er rief ihr noch nach: „Pass auf, es sind Juden dort drin!“
Während sie am Zug entlang lief, der mit Menschen voll gestopft war, erkannten sie die Leute
aus Luxemburg wieder die riefen: „Fritz, Fritz, deine Schwester ist da“. Fritz sprang so schnell
es ging aus dem Zug und die Geschwister lagen einander in den Armen. Aber da kam auch
schon der französische Aufseher aufgeregt angerannt und meinte: „Schnell in den Zug, damit
die Deutschen sie nicht sehen“. Der ältere Bruder, Felix, der gerade seine — vom Roten Kreuz
ausgeteilte - Suppe aß, ließ sein Essgeschirr fallen, als er Elli erblickte. Inzwischen hatte er eine
Frau, namens Gerda, geheiratet, die er in Luxemburg kennen gelernt hatte und mit der er in
die Dominikanische Republik ausreisen wollte.
Die fünfzig Luxemburger Emigranten konnten, trotz des Visums für die Dominikanische
Republik, die spanische Grenze nicht passieren. Sie hatten die Freiheit vor Augen, konnten
jedoch den Abfahrtshafen, Lissabon, vorläufig nicht erreichen. Sie steckten letzten Endes
mehrere Monate in Bayonne fest. In der Grenzstadt befand sich bereits ein - von den
Deutschen errichtetes - Lager, in dem viertausend jüdische Flüchtlinge aus Deutschland
untergebracht waren.
Der „Obersturmbannführer“, Adolf Eichmann, der das Amt 4 der Gestapo - im
Reichssicherheitsdiensthauptamt - inne hatte, war verantwortlich für die „Judenfrage“ in
Deutschland, vor allem in den von den Deutschen besetzten Gebieten. Eichmann zitierte am
24. April 1941 den Großrabbiner von Luxemburg nach Berlin, er wurde von einer jüdischen
Delegation begleitet. Die Abordnung stieg im ersten Hotel Berlins, dem legendären „Adlon
Hotel“, ab. Von dort aus gingen sie ins Reichssicherheitshauptamt, Kurfürsten Straße I 1 6, wo
Eichmann sie pünktlich empfing. Die Delegation wurde von Eichmann äußerst brutal
behandelt. Er erklärte, dass Luxemburg ein deutscher Gau sei und „judenrein“ gemacht
werden müsse. Außerdem sollte sich der Großrabbiner Serebrenik darum kümmern, dass die
inzwischen viertausend deutsche Juden an der französisch-spanischen Grenze bald ausreisen
könnten, sonst führen sie mit den Zügen in östliche Richtung - in die Konzentrationslager...
(Information aus dem Buch: „Longtemps j'aurai memoire“, Dokumente von Zeitzeugen über
die Juden in Luxemburg während des Zweiten Weltkrieges, von Paul Cerf).
(Einige Zeit später kamen noch etliche Luxemburger Juden, die ein Visum für ein Drittland in
der Tasche hatten, in den Konzentrationslagern um.)
Die Deutschen hatten für die Emigranten, die auf der Durchreise nach Portugal waren, jedoch
von den Spaniern keine Einreiseerlaubnis erhielten, eine Notunterkunft in einem alten
Weinlager eingerichtet. Da sie von dort nicht weg durften und bewacht wurden, konnte man
von einem Gefangenenlager sprechen, wo sie mehrere Monate bleiben mussten.
Hier in Bayonne, wo die Brüder, die sich auf der Durchreise von Luxemburg nach Portugal
befanden und hier zunächst gestrandet waren, bekam Elli endlich die neue Adresse ihrer
Mutter, die sich immer noch in Wien aufhielt. Seit sie selbst auf der Flucht war, hatte sie nichts
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mehr von ihr gehört, nun konnte sie wieder Kontakt mit ihr aufnehmen. An Tag des
Wiedersehens mit ihren Brüdern ging Elli weder einkaufen, noch fuhr sie nach Bordeaux
zurück, sie blieb bei ihnen, für alle war ein wunderbarer Traum in Erfüllung gegangen. Elli fuhr
von nun an öfter in die Grenzstadt und besuchte ihre Geschwister, aber sie musste ständig
auf der Hut sein. In dieser Zeit starb ihr Onkel in Bordeaux an einer Schilddrüsenoperation.
Ellis Brüder konnten es irgendwie einrichten, heimlich an der Beerdigung teilzunehmen. Als
der wachhabende Soldat, der immer noch die Aufsicht über die Gefangenen hatte, eines Tages
zu Elli sagte: „Sie sind ja die Judenmutter hier“, war das ein Zeichen aufaupassen. Es war das
letzte Mal, dass sie ihre Brüder und die Freunde besuchte, denn sie wusste ja, bald würden sie
in Freiheit und somit in Sicherheit sein.
Elli nahm Verbindung mit ihrer Mutter auf und versprach ihr, sie so bald wie möglich nach
Frankreich zu holen. Ihre Devise war, wenn sie ihre Mutter nicht retten kann, dann wolle sie
auch nicht mehr leben, danach handelte sie während der ganzen Zeit.
Elli hörte von einer Frau, die auch Wienerin wie sie selbst war, die für die Wehrmacht und für
die französische Prefekture Übersetzungen machte und auch Passierscheine ausstellte. Diese
gewisse Frau Schneider, Ehefrau eines damals berühmten Fußballspielers, der gerade noch in
Algerien zu einem Match angetreten war und im nächsten Moment in Bordeaux stecken blieb,
engagierte sich kurz entschlossen, um als Dolmetscherin zu arbeiten. Elli suchte sie auf, und
es gab zwischen den beiden Wienerinnen eine herzliche, ja feierliche Begrüßung.Treu und brav
schilderte Elli der Frau Schneider ihre Situation und, dass sie für ihre Tante und ihre drei
Kinder Passierscheine benötigte, damit sie ins unbesetzte Frankreich gelangen könnten.
Zuerst wollte Elli ihre Familie in Sicherheit bringen, um sich dann intensiv um die Ausreise
ihrer Mutter aus Wien zu kümmern. Frau Schneider stellte die gewünschten Passierscheine
(gegen gute Bezahlung) aus und gab Elli den Rat: „Wenn Sie Ihre Mutter retten wollen, sollten
Sie sich bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ bewerben, die sucht immer Angestellte, die in
Frankreich wohnen und Deutsch sprechen, damit sparen sie sich das Personal aus
Deutschland. Und wenn Sie vier oder fünf Monate dort arbeiten, bekommen Sie
Heimaturlaub. Es wird Ihnen ein Urlaubsschein ausgestellt, mit dem Sie Ihre Mutter nach
Frankreich holen können. Geht die Sache gut, so haben Sie beide Glück gehabt, geht es schief,
dann sind sie beide verloren“. Elli war sich des Risikos bewusst, aber sie wollte sich nicht die
geringste Chance entgehen lassen, um ihre Mutter aus den Fängen der Nazis zu befreien.
Bereits am nächsten Tag meldete sie sich bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ und fragt nach
Arbeit. Ohne, dass sie nach Religion und Alter befragt wurde, stellte man sie gleich ein. Man
führte sie in das Büro, in dem sie arbeiten sollte und stellte sie ihren Arbeitskollegen vor. Es
waren drei Männer und zwei Frauen, die mit ihr in einem Büroraum saßen. Elli begrüßte alle
mit einem zackigen „Heil Hitler“. Sie hatte bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ die ein- und
ausgehende Post sorgfältig einzutragen und Botengänge zu machen. Nach kurzer Zeit
erledigte sie die ihr aufgetragenen Arbeiten zur größten Zufriedenheit aller. Elli war bei ihren
Kollegen sehr geschätzt und wohlgelitten und da sie Französisch sprach, bat man sie des
Öfteren - auch privat - das eine oder andere Teil zu besorgen. Da Elli immer hilfsbereit und
mit dem Fahrrad recht flexibel war, erledigte sie diese Aufträge prompt. Manchmal besorgte
sie Eier, Stoffe oder Strümpfe. Ihr Chef, der sie inzwischen ins Herz geschlossen hatte, rief sie
immer mit ihrem Nachnamen: „Thau'chen, jetzt komm doch mal her...“ Jedes Mal zitterten
ihre Knie, lief es ihr heiß und kalt gleichzeitig den Rücken hinunter. Wann immer sie gerufen
wurde, dachte sie: „Jetzt ist es aus, gleich fliegt alles auf*. Manchmal bat ihr Chef sie, für seine
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Frau Seidenstrümpfe oder andere Kleinigkeiten zu kaufen und Elli übernahm diese Aufgaben
gerne.
Nachdem Ellis Tante mit ihren drei Kindern im unbesetzten Teil Frankreichs Unterschlupf
gefunden hatte, war sie selbst zunächst bei Bekannten notdürftig untergekommen. Dann ließ
ihr Chef eigens für sie eine Wohnung beschlagnahmen, damit sie, als Angestellte der
„Kriegsmarine-Dienststelle“, eine adequate Wohnung zur Verfügung hatte. Der Gedanke, dass
irgendjemand ihretwegen seine Wohnung räumen musste, war ihr unangenehm. Bald durfte sie
ihre Mahlzeiten in der Offiziersmesse einnehmen. Eines Tages teilte sie beim Mittagessen einen
Tisch mit zwei Schwestern aus Hamburg, sie hießen Lilo und Sepp Allermann. Die Eine nahm
ein Glas und sagt: „Wenn ich wüsste, dass aus diesem Glas eine Jüdin getrunken hätte, ich
würde sterben“. Elli nahm demonstrativ das Glas, trank daraus und stellte es wieder hin. Lange
ahnten die Schwestern nicht, dass Elli Jüdin war. Im Laufe der Zeit entstand nicht nur ein
freundschaftliches, sondern ein sehr herzlich Verhältnis zu ihnen und mit der Zeit wurden sie
Freundinnen. Und weil die Geschwister beide in denselben jungen Mann verliebt waren, mit
dem sie manchmal Probleme hatten, musste Elli herhalten, Missverständnisse ausräumen oder
ihren Streit schlichten und sie alle versöhnen. Elli konnte jetzt fast ein normales Leben führen,
sie war ein Teil der , Alltags-Gesellschaft“ und fühlte sich wieder als Mensch.
Nach drei Monaten bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ - natürlich mit dem all morgen- und
all abendlich frisch herausgerufenen „Heil Hitler“ - fühlte sich Elli fast selbst schon wie eine
Deutsche und nicht wie eine Verfolgte. Fast vergaß sie den Krieg und das damit verbundene
Elend, aber nur fast...
In Arcachon besaß die Kriegsmarine ein herrliches Anwesen. Auf diesem schönen Sitz am
Meer durften die Angestellten der Kriegsmarine die Wochenenden oder die Ferien
verbringen. Auch Elli kam an manchen Wochenenden mit ihren Freundinnen in dieses
Ferienparadies und sie fühlte sich jedes Mal wie eine Fürstin.
Aber die ständige Angst, jeden Moment entdeckt zu werden, strapazierten ihre Nerven. Eines
Tages passierte, was sie immer befürchtet hatte. Jemand denunzierte sie bei der Kriegsmarine.
Diese Person hatte sie dort ein- und ausgehen sehen, oder aber kannte ihre Familie. Herr
Kleemann, ihr Chef, stellte sie sogleich zur Rede. Erfinderisch, wie Elli nun mal war, sie wirkte
äußerst gelassen und behielt die Nerven, erzählte sie von dem jüdischen Austauschstudenten
aus Frankreich, den sie in Wien durch ihren Vater, der ja Professor am Gymnasium war,
kennen gelernt hatte. Als sie ihn wieder in Frankreich besuchte und sah, wie wohlhabend die
Familie war und welch angenehmes Leben sie führten, habe sie von diesem Reichtum ein
wenig profitieren wollen. Da der junge Mann Elli sehr gern mochte, heirateten sie kurze Zeit
später. Dabei habe sie nicht darauf geachtet, dass er Jude sei, dieses habe sie mit 1 8 Jahren
noch nicht bedacht. Jetzt aber lebe sie von ihm getrennt, und er halte sich jetzt im
unbesetzten Teil Frankreichs auf. Elli spielte die Rolle der naiven und überrumpelten Ehefrau
grandios, während sich Herr Kleemann Notizen machte. Er schrieb: „Frau Thau war zum
Zeitpunkt der Ehe minderjährig und sich der Rassenschande nicht bewusst“. Er schickte einen
Brief an das Wiener Gericht, um diese Ehe annullieren zu lassen. Elli war ganz Elend zumute,
sie wusste, dass durch dieses Schreiben der so dringend ersehnte Heimaturlaub ins Wasser
fallen könnte. Dieser Brief hätte alle ihre Pläne zunichte gemacht. Sie selbst schrieb den Brief
an das Wiener Gericht, das war ja ihre Aufgabe, stempelte ihn ab, nahm ihn mit, gab ihn aber
nicht auf. Und während Herr Kleemann auf Nachricht aus Wien wartete, wurde Elli immer
unruhiger. Sie wusste nun, dass ihre Tage bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ gezählt waren.
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Kurze Zeit nach diesem Ereignis feierte die Kriegsmarine ein großes Fest. Die „Bismarck“
hatte am 24. Mai 1 94 1 das britische Flaggschiff „Hood“ versenkt. (Bevor sie selbst drei Tage
später von britischen Torpedos getroffen wurde und südwestlich vor Irland im Atlantik
versank). Dies war natürlich ein Grund zum Feiern. Der Admiral selbst lud alle Angestellten
der „Kriegsmarine-Dienststelle“ zu diesem Festakt ein. Natürlich war auch Elli mit ihren
beiden Freundinnen dabei. Als die Feier ihren Höhepunkt erreichte, alle zufrieden und
glücklich waren, fing Elli an zu weinen. Sie vertrug keinen Alkohol und wenn sie trank, verfiel
sie in eine tiefe Melancholie. So passierte es auch an diesem harmonischen Abend. Der
Admiral wurde auf ihr Schluchzen aufmerksam und meinte; „Wie kann man denn weinen an
solch einem schönen Tag?“ Sie erzählte unter Tränen, dass sie so lange nicht zu Hause in Wien
war, dass sie so Heimweh habe und die anderen Kollegen schon alle auf Heimaturlaub waren.
Der Admiral zeigte sich an diesem ganz speziellen Tag von der jovialen Seite und meinte: „ es
ist wohl ein Tag Gutes zu tun“ und befahl ihrem Chef; „Herr Indentatura, einen Urlaubsschein
für zwei Wochen für diese junge Dame, Heil Hitler“. (Indentatura - Intendant, war in
früheren Jahren ein gebräuchlicher Name für einen Verwaltungsbeamten, der an die strenge
Weisung des Königs gebunden war).
Herr Kleemann gab Elli den Urlaubsschein mit den Worten: „Na Thau'chen, da hast du ja
Glück gehabt, aber bei der Gelegenheit gehst du gleich zum Wiener Gericht und schaust nach
Deinen Scheidungspapieren“. Elli bereitete sich einige Tage auf diese Reise vor. Sie besorgte
kleine Geschenke und etwas zu essen für ihre Mutter und erhielt ein Ausweispapier auf den
Namen „Elisabeth Thau-Koch"; das Geburtsdatum war mit „7. 1 1.18“ anstatt „191 8“
angegeben. Sie erhielt zwei Fahrkarten, eine für die Hinfahrt, die andere für die Rückfahrt mit
dem Wehrmachtszug.
Und so fuhr eine Jüdin, mitten im Krieg, in aller Seelenruhe, bequem und angenehm inmitten
von Militär nach Wien. In Metz hatte der Zug eine Stunde Aufenthalt und Elli eilte geschwind
in das ehemalige Geschäft ihrer Familie, sie wollte nur nachsehen, ob noch irgendetwas von
dem Eigentum des Onkels vorhanden war. Sie fand nichts mehr von dem Familienbesitz vor.
Aber eine ehemalige Nachbarin erkannte Elli und rief händeringend: „Eine Jüdin, eine Jüdin ist
hier“. Doch Elli erwiderte: „Hör auf zu jammern und zu schreien, ich bin keine Jüdin mehr, man
hat mir mein ganzes Blut herausgenommen, ich habe jetzt reines arisches Blut in mir.“ Die
Frau schaute Elli fassungslos an und schien ihr zu glauben.
Morgens in aller Frühe kam Elli in Wien an und ging direkt zur Adresse ihrer Mutter. Die hau-
ste immer noch in einem fürchterlichen Kellerloch. Mutter und Tochter fielen sich in die Arme.
Zu diesem Zeitpunkt bekamen die restlichen — in Wien verbliebenen — Juden immer noch von
den Nazi-Behörden Vorladungen, sich zu melden. Wer sich meldete kam in ein Sammellager
und wurde ins „Niemandsland“ verschleppt - die meisten nach Auschwitz. Ellis Mutter hatte
nie auf Behördenbescheide reagiert, sie hoffte, baute und vertraute auf ihre Tochter, dass sie
eines Tages kommen und sie retten würde und nun war es endlich soweit. Ohne viel Zeit zu
verlieren, arbeitete Elli ihren Rettungsplan aus. Sie ließ ihrer Mutter die Rückfahrkarte da, kauf-
te sich eine neue und fuhr eine Woche später mit ihrem Urlaubsschein zurück nach Bordeaux.
Sie setzte auf das vierzehn Tage gültige Dokument, das in ihrem Büro ausgestellt wurde, das
Bild ihrer Mutter, stempelte alles ordnungsgemäß ab, denn sie saß ja an der Quelle. Das Datum
von „18“ ändert sie auf „1898“, dies war das Geburtsjahr ihrer Mutter und schickte dieses
kostbare Papier mit einem Anschreiben nach Wien: „Liebe Frau Koch,
versehentlich habe ich Ihre Urlaubsbescheinigung mitgenommen und lege sie diesem Brief
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bei, damit Sie noch rechtzeitig von Ihrem Urlaub zurückkommen können“.
Im Büro will man von Elli wissen, was sie in Wien beim Gericht erreicht hat. Sie erklärt, sie
habe niemanden angetroffen, der für ihre Sache zuständig war, viele seien im Urlaub gewesen.
Elli hatte ihrer Mutter genau erklärt, wo sie in Metz umsteigen müsse und wann der Zug in
Bordeaux ankomme. Bis zur Ankunft ihrer Mutter hatte Elli keine ruhige Minute mehr; sie
schlief nicht, war nervös, sie hat Angst. Sie suchte sich schon eine Brücke aus, von der sie
hinunter springen wollte — falls die Flucht misslang. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie,
wenn ihre Tat auffiel, sofort verhaftet und ins Lager geschickt würde. Da zog sie es doch vor,
freiwillig in den Tod zu gehen. Die letzten drei Tage und Nächte wurden für Elli zum reinsten
Alptraum. Am besagten Morgen stand Elli schon sehr zeitig am Bahnsteig und wartete auf den
Wehrmachtszug aus Wien - und tatsächlich, ihre Mutter stieg wohlbehalten in Bordeaux aus.
Sie waren beide überglücklich über die gelungene Ausreise aus dem Nazi-Reich und fielen sich
in die Arme. Berta Koch erzählte von ihrer abenteuerlichen Reise inmitten ihrer Verfolger. Um
nicht viel reden zu müssen, hatte Frau Koch eine Backenbinde angelegt wie man sie früher bei
Zahnweh trug. Als der Kontrolleur seine Runde machte, sagte er zu der jungen Frau neben
Berta Koch: „Mit Ihren Papieren stimmt etwas nicht, schauen Sie nur diese Frau an, bei der ist
alles in Ordnung“. Die mitreisenden Soldaten boten Berta Koch Zigaretten an, waren freund-
lich und zuvorkommend.
Schon nach kurzer Zeit bereitete Elli die Reise ihrer Mutter ins südliche, unbesetzte
Frankreich vor. Dort sollte sie bei ihrer Schwester, die zuvor in Metz wohnte und die sie seit
vierundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, in Agde (bei Montpellier), bleiben. Elli
tauschte das Bild auf ihrer Kennkarte gegen das ihrer Mutter aus und die Reise konnte
beginnen. Elli wollte jetzt nur noch ihr letztes Monatsgehalt kassieren und dann nach
Südfrankreich nachkommen. Sie war überglücklich, dass ihre Mutter endlich die Freiheit
erlangt hatte.
Nur wenige Tage, nachdem die Mutter aus Bordeaux abgereist war, rief der Chef Elli zu sich
und teilt ihr mit, (er muss in der Zwischenzeit einen zweiten Brief an das Wiener Gericht
geschickt haben) dass er aus Wien eine Antwort auf sein Schreiben bekommen habe mit dem
Hinweis, dass Elli Jüdin sei. Herr Kleemann griff zum Telefonhörer und wollte Meldung bei der
Gestapo machen. Elli ging zum Fenster, was im dritten Stock lag und sagt ihm, wie wohl sie
sich bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ gefühlt habe, wie ein Mensch sei sie sich inmitten
ihrer Kollegen vorgekommen. Sie sagt ihm, dass sie für ihre Herkunft nicht könne und lieber
solle er sie erschießen als sie der Gestapo zu übergeben. Herr Kleemann ließ sich von der
verzweifelt kämpfenden und ihm ausgelieferten zarten Person erweichen. Er legte den
Telefonhörer auf und machte ihr den Vorschlag, sie solle zunächst zwei Tage lang in ihrer
Wohnung auf Nachricht von ihm warten, er werde in der Zwischenzeit mit den anderen
Kollegen beraten, was mit ihr geschehen soll. Ellis Freundinnen, Lilo und Sepp Allermann,
wurden zum Chef gerufen, man teilte ihnen mit, dass Elli entlassen sei und dass sie nicht mehr
mit ihr reden dürfen, da sie eine Jüdin sei.
Schmerzerfüllt, entmutigt und hoffnungslos verließ Elli die „Kriegsmarine-Dienststelle“. Sie
schwang sich auf ihr Fahrrad und wollte gerade davoneilen, sah aber im letzten Augenblick ihre
Freundinnen wild gestikulierend hinter sich herlaufen. Die Angst packte Elli, denn sie
erinnerte sich nur zu gut an ihre antisemitischen Äußerungen und strampelt, was die Pedale
hielt... An einer Kreuzung musste sie anhalten. Die beiden Mädchen holten sie ein, fielen über
Elli her, küssten, herzten, umarmten sie, entschuldigten sich für alles, was sie Elli mit ihrem
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bei, damit Sie noch rechtzeitig von Ihrem Urlaub zurückkommen können“.
Im Büro will man von Elli wissen, was sie in Wien beim Gericht erreicht hat. Sie erklärt, sie
habe niemanden angetroffen, der für ihre Sache zuständig war, viele seien im Urlaub gewesen.
Elli hatte ihrer Mutter genau erklärt, wo sie in Metz umsteigen müsse und wann der Zug in
Bordeaux ankomme. Bis zur Ankunft ihrer Mutter hatte Elli keine ruhige Minute mehr; sie
schlief nicht, war nervös, sie hat Angst. Sie suchte sich schon eine Brücke aus, von der sie
hinunter springen wollte - falls die Flucht misslang. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie,
wenn ihre Tat auffiel, sofort verhaftet und ins Lager geschickt würde. Da zog sie es doch vor,
freiwillig in den Tod zu gehen. Die letzten drei Tage und Nächte wurden für Elli zum reinsten
Alptraum. Am besagten Morgen stand Elli schon sehr zeitig am Bahnsteig und wartete auf den
Wehrmachtszug aus Wien - und tatsächlich, ihre Mutter stieg wohlbehalten in Bordeaux aus.
Sie waren beide überglücklich über die gelungene Ausreise aus dem Nazi-Reich und fielen sich
in die Arme. Berta Koch erzählte von ihrer abenteuerlichen Reise inmitten ihrer Verfolger. Um
nicht viel reden zu müssen, hatte Frau Koch eine Backenbinde angelegt wie man sie früher bei
Zahnweh trug. Als der Kontrolleur seine Runde machte, sagte er zu der jungen Frau neben
Berta Koch: „Mit Ihren Papieren stimmt etwas nicht, schauen Sie nur diese Frau an, bei der ist
alles in Ordnung“. Die mitreisenden Soldaten boten Berta Koch Zigaretten an, waren freund-
lich und zuvorkommend.
Schon nach kurzer Zeit bereitete Elli die Reise ihrer Mutter ins südliche, unbesetzte
Frankreich vor. Dort sollte sie bei ihrer Schwester, die zuvor in Metz wohnte und die sie seit
vierundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, in Agde (bei Montpellier), bleiben. Elli
tauschte das Bild auf ihrer Kennkarte gegen das ihrer Mutter aus und die Reise konnte
beginnen. Elli wollte jetzt nur noch ihr letztes Monatsgehalt kassieren und dann nach
Südfrankreich nachkommen. Sie war überglücklich, dass ihre Mutter endlich die Freiheit
erlangt hatte.
Nur wenige Tage, nachdem die Mutter aus Bordeaux abgereist war, rief der Chef Elli zu sich
und teilt ihr mit, (er muss in der Zwischenzeit einen zweiten Brief an das Wiener Gericht
geschickt haben) dass er aus Wien eine Antwort auf sein Schreiben bekommen habe mit dem
Hinweis, dass Elli Jüdin sei. Herr Kleemann griff zum Telefonhörer und wollte Meldung bei der
Gestapo machen. Elli ging zum Fenster, was im dritten Stock lag und sagt ihm, wie wohl sie
sich bei der „Kriegsmarine-Dienststelle“ gefühlt habe, wie ein Mensch sei sie sich inmitten
ihrer Kollegen vorgekommen. Sie sagt ihm, dass sie für ihre Herkunft nicht könne und lieber
solle er sie erschießen als sie der Gestapo zu übergeben. Herr Kleemann ließ sich von der
verzweifelt kämpfenden und ihm ausgelieferten zarten Person erweichen. Er legte den
Telefonhörer auf und machte ihr den Vorschlag, sie solle zunächst zwei Tage lang in ihrer
Wohnung auf Nachricht von ihm warten, er werde in der Zwischenzeit mit den anderen
Kollegen beraten, was mit ihr geschehen soll. Ellis Freundinnen, Lilo und Sepp Allermann,
wurden zum Chef gerufen, man teilte ihnen mit, dass Elli entlassen sei und dass sie nicht mehr
mit ihr reden dürfen, da sie eine Jüdin sei.
Schmerzerfüllt, entmutigt und hoffnungslos verließ Elli die „Kriegsmarine-Dienststelle“. Sie
schwang sich auf ihr Fahrrad und wollte gerade davoneilen, sah aber im letzten Augenblick ihre
Freundinnen wild gestikulierend hinter sich herlaufen. Die Angst packte Elli, denn sie
erinnerte sich nur zu gut an ihre antisemitischen Äußerungen und strampelt, was die Pedale
hielt... An einer Kreuzung musste sie anhalten. Die beiden Mädchen holten sie ein, fielen über
Elli her, küssten, herzten, umarmten sie, entschuldigten sich für alles, was sie Elli mit ihrem
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dummen Gerede angetan hatten. Sie erzählten ihr, wie sie in der Schule ständig gegen Juden
aufgehetzt wurden, dass Juden böse und schlecht seien, dass man sie hassen und umbringen
müsse. Juden wurden für alles Negative, Schändliche, Gemeine, Niedrige und Verbrecherische
verantwortlich gemacht. Und nun ist eine Jüdin ihre beste Freundin, eine treue und liebe Seele.
Es war eine erschütternde, jedoch sehr menschliche Szene, die sich mitten auf der Strasse
abspielte.
Elli blieb zwei Tage lang in ihrem Zimmer, die beiden Mädchen besuchten Elli und brachten ihr
etwas zu essen, sie zweigten von ihren spärlichen Rationen etwas für ihre Freundin ab, denn
vorher hatte sie mit ihnen, das Wenige, was ihr blieb, geteilt. Nach zwei Tagen der Beratung
hatten ihre ehemaligen Vorgesetzten beschlossen, dass Elli frei sei und Bordeaux so schnell wie
möglich verlassen sollte. Sie fiel ihrem Chef um den Hals und sagt: „Ich wusste, dass Sie mich
freilassen, ein Mensch mit Herz kann mich doch nicht der Gestapo ausliefern“. Danach fuhr
sie geradewegs nach Nizza, wohin Ellis Mutter mit ihrer Schwester und den beiden Kindern
inzwischen übersiedelt waren. Ellis taubstummer Mann war bei einem Schneider in
Südfrankreich untergekommen, denn er hatte dieses Handwerk gelernt. Eine französische
Familie nahm sich seiner an und da er nicht sprechen konnte, wurde er nie von den Deutschen
behelligt oder verfolgt. Er heiratete später eine ebenfalls taubstumme Frau und das Ehepaar
bekam einen nicht behinderten Sohn.
Endlich war Elli mit ihrer Familie in Nizza zusammen. Dort waren die Familienmitglieder in
einem billigen und etwas verwahrlosten Hotel - mitten in der Stadt - untergekommen und
bewohnten zwei Zimmer. Das Hotels war überfüllt mit jüdischen Flüchtlingen.
Am I l.l 1.1942 marschierten deutsche Truppen in das bislang unbesetzte Frankreich ein und
verbreiteten auch hier Angst und Schrecken unter der Bevölkerung und speziell bei den Juden.
Sie zogen den Männern die Hose aus, um nachzusehen, ob sie beschnitten waren. Menschen
sprangen aus lauter Verzweiflung aus den Fenstern, es herrschten plötzlich Chaos und
katastrophale Verhältnisse in dem sonst so beschaulichen Badeort.
Elli, ihre Mutter, die Tante mit den beiden Kindern, Charles und Regine, teilten sich zu fünft
die beiden Hotelzimmer. Die Kinder schliefen abwechselnd mal bei der eigenen Mutter und
mal bei der Tante. In jener verhängnisvollen und tödlichen Nacht, beharrte der
dreizehnjährige Charles darauf, das Zimmer mit seiner Mutter alleine zu teilen und schickt
seine Schwester zu Elli und ihrer Mutter. Das war die unglückselige Nacht, wo die Nazis
Razzien auf Juden machten und dabei alle Hotels stürmten. Sie rissen die ahnungslosen
Menschen aus ihrem tiefsten Schlaf. Es blieb ihnen kaum Zeit sich anzuziehen, sie wurden
gewaltsam zu den bereits wartenden Zügen gezerrt, deren Endstation Auschwitz war. Aus
einem nicht erklärlichen Grunde wurde Ellis Zimmer, wo sie mit ihrer Mutter und der
Cousine schlief, übersehen oder vergessen, jedenfalls blieben sie unentdeckt und somit von
der Deportation verschont.
Die neuerliche, dramatische Situation im sonnigen Nizza, verstörte und beängstigte Elli sehr
und sie beschloss mit der Mutter und der kleinen Cousine wieder nach Bordeaux zu fahren.
Dort kannte sie sich aus, hatte Freunde, von denen sie wusste, dass sie sie unterbringen
würden. Allerdings mussten sie dazu mit dem Zug fahren und die von den Deutschen - quer
durch Frankreich - errichtete Grenze, passieren. Aus diesem Grunde war auf dieser Fahrt mit
einer Kontrolle zu rechnen. Da Ellis Mutter eine falsche Identitätskarte besaß, ja, ihren
französischen Namen nicht einmal richtig aussprechen konnte, bestand natürlich für sie alle
die große Gefahr, entdeckt zu werden. Trotz der großen Lebensgefahr gingen sie das Risiko
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der Zugfahrt ein. Frau Koch bekam von Elli den Rat, während der ganzen Fahrt zu schweigen.
Das Abteil war voll besetzt. Die Cousine war noch so jung, dass sie kein Erkennungspapier
brauchte. Ein deutscher Offizier kontrollierte während der Fahrt die Ausweise der
Mitreisenden. Als Berta Koch an die Reihe kam, berührte Ellis Hand leicht die des jungen
Offiziers und sie fragt ganz kokett mit süßer Stimme, ob er vielleicht eine Zigarette für sie
habe. Der Soldat war verwundert und gleichzeitig hocherfreut, dass die unbekannte Schöne
seiner Sprache mächtig war. Der Offizier gab ihr eine Zigarette, reichte ihr Feuer auf dem
Gang und Elli verwickelte ihn in ein interessantes Gespräch. Dabei vergaß er die Kontrolle bei
Berta Koch und wieder einmal kamen sie mit heiler Haut und unbehelligt davon.
In Bordeaux konnten sie tatsächlich in dem kleinen Gartenhäuschen von Ellis Bekannten
wohnen. Es war alles bescheiden und provisorisch eingerichtet, aber es ließ sich darin leben.
Ständig auf der Flucht und nirgendwo gemeldet, standen ihnen auch keine Lebensmittel zu, die
es auf Bezugsscheine gab. Nun musste sich Elli wieder etwas einfallen lassen damit die Familie
nicht verhungerte. Zwar lebten sie vorläufig noch von Schmuck und kleinen Goldstückchen,
die sie gegen Brot oder andere Lebensmittel eintauschten, aber irgendwann war alles
aufgebraucht.
Elli versuchte sich als Sekretärin durchzuschlagen. Sie hatte aber nur wenig Erfahrung in
diesem Beruf und dementsprechend unbefriedigend waren auch ihre Leistungen. Sie
arbeitete oftmals nur zwei oder drei Tage in einer Firma, bis man sie entließ. Aber jedes Mal
wurden ihr die wenigen Tage der Arbeit ausgezahlt und konnten sich so einigermaßen über
Wasser halten. Eines Tages kam Elli an einer Autowerkstatt vorbei. Dort hing ein Schild
„SEKRETÄRIN GESUCHT“. Elli versuchte ihr Glück und von zehn Mitbewerberinnen wurde
ausgerechnet sie ausgesucht und konnte gleich am nächsten Morgen um acht Uhr dort
beginnen. Ihr Chef verlangte sie sofort zum Diktat. Sie gestand, dass sie keine Stenographie
beherrsche und der geduldige Mann notiert auf einem Zettel vor, was Elli zu schreiben hatte.
Nervös und in Schweiß gebadet, versuchte Elli, das Papier mit den drei Kopien in die Maschine
zu spannen. Es gelang ihr jedoch nur nach vielen Mühen. Nach dem ersten Satz gab sie auf, sie
erklärte, dass ihre Schreibmaschinenkenntnisse gleich Null wären und sie außerdem seine
Schrift nicht lesen könne. Nun wurde ihr Chef reichlich ungeduldig und rief: „Was ist das für
eine Sekretärin, Steno kann sie nicht, Maschinenschreiben kann sie nicht, und jetzt hapert es
auch noch mit dem Lesen“. Da brach Elli in Tränen aus und erzählte: „Ich bin Flüchtling, Jüdin,
lebe mit meiner Mutter und Cousine versteckt, wir müssen doch leben, aber ich weiß nicht
von was, deshalb habe ich mich hier bei Ihnen um diese Stelle beworben. Aber nun sehe ich,
dass ich dieser Aufgabe nicht gewachsen bin. Besser gehe ich jetzt“. Der Besitzer rief seinen
Direktor und gab Anweisung, er solle Elli irgendeine gerade anfallende Aufgabe geben, nur um
Gottes Willen solle er dafür sorgen, dass er endlich eine ordentliche Sekretärin bekäme. Zu
Elli gewandt meinte er: „Wenn das Leben Sie in solch eine Situation gebracht hat und Sie sich
so tapfer verteidigen und kämpfen müssen, wie Sie es jetzt getan haben, dann kann ich nur
voller Bewunderung meinen Hut ziehen. Denn auch ich habe eine Tochter in ihrem Alter und
möchte sie immer behütet und beschützt wissen“.
Wie immer und überall war Elli auch hier der Liebling aller Kollegen. Nach einigen Monaten
wurde die Garage von der deutschen Wehrmacht regelmäßig besucht, denn die Deutschen
ließen hier ihre defekten Autos reparieren. Um sich nicht vor den Deutschen zu zeigen,
erledigte sie nun ihre Arbeit in den hinteren Räumen. Elli machte den Vorschlag, die
Rechnungen auf Deutsch auszustellen, das spare die Übersetzung und die damit verbundene
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lange Wartezeit der Bezahlung. Sie besorgte sich ein Wörterbuch und lernte so die einzelnen
Autoteile im Nu kennen. Ihr Chef war begeistert, alles klappte und funktionierte bestens. Elli
stellte sogar Rechnungen für andere französische Firmen aus, die ihr Vorgesetzter ihr
vermittelte, und die ebenfalls mit den Deutschen zusammenarbeiteten. Elli hatte nun ein regel-
mäßiges Einkommen und die drei Frauen konnten passabel davon leben.
So ging es bis zum Kriegsende weiter. Die Deutschen kapitulierten und zogen aus Bordeaux
ab, nicht, ohne vorher noch wilde Verwüstungen anzurichten. Da Ellis Chef die Autos der
deutschen Wehrmacht repariert hatte, sperrte man ihn als Kollaborateur ins Gefängnis. Elli
besuchte ihren Chef in der Strafanstalt und erzählte den zuständigen Beamten, dass sie als
Jüdin bei dem Gefangenen gearbeitet und er nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie
gerettet habe. Auf ihre Intervention hin, ließ man ihren ehemaligen Arbeitgeber frei.
Nachdem die Deutschen das Land verlassen hatten, gab es für Elli keine Übersetzungsarbeit
mehr. Sie befand sich wieder einmal auf Stellensuche, jedoch ohne Erfolg. In Bordeaux
installierte sich die jüdische Hilfsorganisation „Federation juive de France“. Sie kümmerte sich
um Menschen, die sich in Bordeaux und Umgebung während des Krieges versteckt gehalten
hatten - oder um jüdische Flüchtlinge, die ständig eintrafen, um nach ihren Verwandten zu
suchen. Auch Elli forschte hier nach Familienmitgliedern, aber zunächst noch erfolglos. Da sie
nun keine Arbeit und kein Einkommen hatte, sie jedoch alle von etwas leben mussten,
beschloss Elli mit einer Freundin nach Marseille zu fahren, um dort vom Schwarzhandel zu
profitieren. Sie hatte schon viel davon gehört, und seit die Amerikaner dort angekommen
waren, blühte und gedieh der Schwarzmarkt-Handel. Sie legten ihre ganze Barschaft
zusammen und wollten Kaffee und Zigaretten schmuggeln, um die Ware später in Bordeaux
weiterzuverkaufen. Die beiden Frauen mieteten sich in einem billigen Hotel ein und ließen sich
in einem einschlägigen Cafe im Gangster Viertel nieder. Hier beobachteten sie das Treiben und
warteten auf einen „Händler“: alles schien bestens geplant. Als ein Interessent zu ihnen kam
und über ein Geschäft verhandelte, verschwanden die drei Personen zur „Übergabe“ in einen
dunklen Hausflur. Dort riss der Mann ihnen die Handtasche weg, rannte in Windeseile davon
und verschwand im Gewühl der Menschen spurlos und auf Nimmerwiedersehen. Nicht nur
die Tasche mit dem Bargeld war verschwunden, sondern auch alle Ausweispapiere. Nun stan-
den die beiden Frauen ratlos da, das vorher so gut geplante „Geschäft“ war mit einem Schlag,
wie eine Seifenblase zerplatzt.
Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, gingen sie zur Polizei und zeigten den
Diebstahl an. Aber hier konnte man ihnen nicht weiterhelfen. Außerdem waren sie in einer
illegalen Mission unterwegs gewesen. Man gab ihnen den Rat, bei der jüdischen
Hilfsorganisation vorzusprechen. Obwohl es bereits nach achtzehn Uhr war und das Büro
geschlossen hatte, fassten sich die beiden Frauen ein Herz und läuteten an der Tür. Aus dem
oberen Stockwerk blickte ein Herr aus dem Fenster und fragte nach ihren Wünschen. Elli sah
ihn wie versteinert an: Es war ihr Onkel, FrederikThau, der Bruder des verstorbenen Onkels
aus Metz, er war hier Leiter der „Federation Juive de France“ in Marseille. Es handelte sich
um eine jüdische Hilfsorganisation, die dem „JOINT“ angeschlossen war. Diese Organisation
wurde in den 20er Jahren in Amerika gegründet, um in Not geratenen Juden zu helfen und sie
finanziell zu unterstützen. Der „JOINT“ hatte bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges
versucht, die in Deutschland lebenden Juden herauszuholen und sie in andere Länder zu
bringen. Die meisten Menschen aber glaubten nicht, dass es zu so einem schlimmen Ausmaß,
wie dem des Holocaust, kommen würde. Der Onkel bat die beiden Frauen ins Haus und Elli
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musste zunächst einmal Schelte einstecken, dass sie sich auf solch eine Art von Geschäft
eingelassen hatte. Aber er half ihnen weiter. Vorerst konnten sie bei ihm wohnen und essen,
dann erhielt Elli provisorische Ausweisdokumente, mit denen sie zurück nach Bordeaux
reisen konnte. Der Onkel, ein Witwer, schlug vor, dass die ganze Familie - oder was von ihr
übrig geblieben war — nach Marseille übersiedeln sollte, dann wollte man weitersehen...
In Marseille wird Elli die rechte Hand ihres Onkels bei der jüdischen Organisation und ist sehr
glücklich, dass nun endlich die Familienmitglieder beisammen sind. Die Mutter führte den
Haushalt und war froh. Regine in ihrer Nähe zu haben, denn um ihr Französisch war es immer
noch nicht gut bestellt. Elli war oft unterwegs und hatte viel zu tun, denn seit dem Kriegsende
wurde Frankreich zu einem Zufluchtsort für die Juden aus aller Welt. Es musste nach Platz für
Flüchtlingslager gesucht und mit den Behörden über Räumlichkeit und Unterbringung
verhandelt werden. Das Flüchtlingslager „La Ciotat“ entstand. Ebenfalls war es Ellis Aufgabe,
sich um die ehemaligen KZ-Häftlinge zu kümmern, die nach und nach in Frankreich eintrafen.
Körperlich und seelisch mussten diese Menschen aufgerichtet und versorgt werden. Und weil
die Hoffnung bestand, dass von Marseille aus Schiffe nach Palästina fuhren, kamen viele Juden
in die Hafenstadt, manche im Alleingang über die Schweiz, andere - die Mehrheit - durch
jüdische Organisationen. Plötzlich tauchten Menschen auf, die sich in Marokko, Ägypten,
Algerien, u.s.w. während der Kriegsjahre versteckt gehalten hatten, alle wollten nun nach „Erez
Israel“ gelangen.
In diesem Nachkriegs-Chaos wurden täglich Suchmeldungen im Radio gesendet. Eines Tages
forschten KZ-Überlebende in einem Pariser Krankenhaus nach ihren Angehörigen. Elli, die
diese Sendung immer verfolgte, schreckte auf als der Name, „Charles Thau“. fiel, der nach
seiner Familie fahndete. Elli machte sich eilends auf, um in die Hauptstadt zu gelangen. Im
Pariser Hospital, wo hunderte von jämmerlichen Gestalten nebeneinander lagen, die eher
aussahen wie Skelette, als menschliche Wesen konnte man sie kaum noch bezeichnen, suchte
Elli die Reihen ab. Alle sahen sie uralt, eingefallen, mehr tot als lebendig aus. Aus tiefen dunklen
Augenhöhlen schaute Elli unendlich viel Leid und Trauer entgegen und sie suchte verzweifelt
nach ihrem Cousin Charles, den sie aber nirgendwo entdeckte. Plötzlich erhob sich ein
Knochengestell langsam vom Lager und rief mit schwacher Stimme: „Elli, Elli!“ Da stand er
nun, der einstmals blonde Junge mit dem dicken lockigen Haarschopf und den schönen
blauen Augen, kahl geschoren und völlig eingefallen, wie einer, der dem Tod gerade noch von
der Schippe gesprungen war. Sie umarmten sich und Elli hatte Angst, sie könne seine fragilen
Körper mit den herausstehenden Knochen beim leichtesten Druck zerbrechen. Rasch besorgt
sie ihm bei der Organisation Kleidung, bekam für ihn Essen und eine Fahrkarte und nahm ihn
mit nach Marseille. Ein Junge von 16 Jahren, der von einem alten Mann nicht zu unterscheiden
war.
Zuhause erzählte er von den grausamen Geschehnissen in Auschwitz, wie er und seine Mutter
gleich bei der Ankunft in Birkenau getrennt wurden. Sie standen in verschiedenen
Warteschlangen, um aussortiert zu werden. „Sag ihnen, dass Du 1 6 Jahre alt bist“ raunte ihm
die Stimme seines Vordermannes zu. Diese Falschaussage rettete Charles das Leben. Als die
Mutter in der anderen Schlange an die Reihe kam, schaute sie sich verzweifelt und Hilfe
suchend nach ihrem Sohn um. Sie wurde auf die Seite der Todeskandidaten geschoben. Sie rief
ihrem Sohn noch zu: „Charles, wo bringen sie mich hin?“ Weiter kam sie nicht, sie erhielt einen
kräftigen Schlag auf den Kopf und wurde sofort vergast.
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Bis zur Befreiung verbrachte Charles zweieinhalb Jahre im Konzentrationslager in Auschwitz-
Birkenau. Trotz schwerer Arbeit, Schlägen und vieler Demütigungen hat er überlebt. Zwei
Dinge haben ihn sehr wütend gemacht, die konnte er den Nazis nie verzeihen, erstens, dass
man ihm seinen Kopf kahl schor und seine üppige Lockenpracht entfernte, zweitens, den Tag,
als er auf sein Mittagessen, eine dünne Suppe, wartete. Er hatte sich ganz hinten in die Reihe
gestellt, in der Hoffnung, er könnte seine Ration aus dem unteren Teil des Suppenkessels, wo
sich vielleicht einige dicke Stücke Kartoffeln oder Gemüse befanden, erhaschen. Aber als
Charles an die Reihe kam, war der Suppentopf leer und er musste auf den nächsten warten,
bei dem man ihm von ganz oben eine Wasserbrühe schöpfte. Wenn über Nacht ein Mensch
starb, so versuchten die Lagerinsassen seine Leiche ein paar Tage zu verstecken, damit sie die
Brotration des Toten noch erhielten.
Charles lebt heute noch in Frankreich, er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Seine Manie ist,
dass bei keiner Mahlzeit das Brot fehlen darf, auch wenn es nicht gegessen wird, es muss nur
griffbereit daliegen, denn die Angst vor dem Verhungern sitzt einfach zu tief. (Vielleicht ist sein
Sohn, David, deshalb Bäcker und Konditor geworden und betreibt ein Cafe in Miami).
Die „Federation Juive de France“ in Marseille, bei der Ellis Onkel Vorsitzender war und sie
seine Mitarbeiterin, war unermüdlich im Einsatz. Sie stellten nicht nur Kollektiv-Visa aus,
sondern kümmerten sich selbstlos und pflichtbewusst um die vielen Menschen, die körperlich
und seelisch am Ende waren. Der Ansturm der Asylanten in der französischen Hafenstadt war
kaum zu bewältigen. Aber wohin sollten sich die ehemaligen KZ-Häftlinge wenden? Dort, wo
sie einmal beheimatet waren, gab es für sie keinen Aufenthalt, kein Zuhause mehr, sie waren
unerwünscht. Man hatte den Menschen alles genommen was ihnen lieb und teuer war, selbst
die Würde war manchen abhanden gekommen. Nach einer jahrlangen schlimmen Odyssee
wurde ihnen sogar die Heimat verweigert. In den Lagern waren sie nur Nummern gewesen,
nun gehörten sie zu den so genannten „dp's“ „displaced persons“. Diese einsamen, innerlich
zutiefst zerrissenen und zerbrochenen und vom Schicksal gezeichneten Menschen hatten nur
noch einen Wunsch und eine Hoffnung, Europa so schnell wie möglich hinter sich zu lassen
und nach Palästina zu gelangen.Aber die Engländer sperrten ihnen mit ihrer Flotte den Seeweg
ins gelobte Land. Es waren zum Teil kleine, kümmerliche Schiffe, die mit Flüchtlingen bis an die
Grenze der Tragfähigkeit voll gestopft waren, die fast alle von den Engländern an der
Weiterfahrt gehindert wurden. Die ganze Welt empörte sich über das Verhalten der Briten,
denn die bereits vom Schicksal geschlagenen Menschen landeten - nach Tagen der qualvollen
Enge auf den Schiffen — auf der Insel Zypern und wurden dort wieder in einem Lager mit
Stacheldraht und Wachposten untergebracht.
Eines Tages weigerten sich die Menschen, die im Hafen von Toulon auf den umgebauten
Frachtschiffen auf ihre Abfahrt warteten — und von den Engländern daran gehindert wurden—
von Bord zu gehen. Es entstand eine ähnliche Situation wie auf der „EXODUS“ oder der
„GELOBTES LAND“ vor Zypern. Die Menschen an Bord verschanzten sich und gaben selbst
nach einer Woche nicht auf. Um diese Kranken, Alten, Kinder, KZ-Geschädigten und
Schwachen zu versorgen, war wieder der Einsatz der Organisation gefordert, an der Elli
selbstverständlich in erster Linie mit beteiligt war. Ärzte und Hilfspersonal kümmerten sich
um die armen Geschöpfe und versorgen sie mit dem Notwendigsten. Trotzdem konnte nicht
verhindert werden, dass einige schwer kranke, erschöpfte und geschwächte Menschen, auf
dem Schiff starben.
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In der Zwischenzeit bemühten sich die Juden, einen eigenen autonomen Staat zu gründen. Sie
wollten nicht länger unter der Herrschaft und dem Joch der Engländer stehen, die sie nicht
vor angreifenden Nachbarn schützten. Nur 1 5.000 Personen im Jahr gewährten sie Einlass
nach Palästina. Sie erlaubten nur sehr alten Menschen und Kindern die Einreise. Einwanderer
im wehrfähigen Alter wurden ganz bewusst nicht aufgenommen. Bereits seit Ende des
19. Jahrhunderts versuchten die Anhänger des Zionismus die Wiedererrichtung eines
jüdischen Staates in Palästina zu erreichen. Dies gelang erst am 14. Mai 1 948, als der Staat Israel
gegründet wurde. Im Herbst 1 947 wurde dieses jüdische Anliegen vor die Vollversammlung
der UNO gebracht. Für die Annahme des Beschlusses einer Teilung Palästinas war eine
Zweidrittelmehrheit erforderlich. Am Freitag, den 29. November 1947, wurde in einer
Vollversammlung der UNO über die Teilung Palästinas abgestimmt. Die Mitglieder des
„JISCHUW“, eine zionistische Weltorganisation, deren Mitglieder mit einer zwölfköpfigen
Delegation vertreten waren, gaben sich keiner Illusion hin, da sie sich bereits seit Jahren um
einen eigenen Staat bemüht hatten. Zur Überraschung aller Beteiligten, kam die
Zweidrittelmehrheit zustande. Die Engländer zogen im Frühjahr l948ab.Am 14. Mai 1948 war
es endlich soweit, die Errichtung eines jüdischen Staates war erreicht und die Unabhängigkeit
wurde ausgerufen. Die Menschen jubelten und freuten sich - und das nicht nur im neuen
Staate Israel, sondern auf der ganzen Welt. Überall wo Juden lebten, wurde dieser Triumph
gefeiert. Nach Zweitausend Jahren war die Wiedergeburt Israels zur Wirklichkeit geworden.
Auch in Frankreich wurde dieser Tag feierlich begangen. Die im Hafen liegenden Schiffe
erhielten unverzüglich ihre neue Blau-Weiße Flagge mit dem Davidstern und konnten von nun
an unbehelligt nach Israel gelangen. Frederik Thau wurde der erste israelische Konsul in
Marseille. Elli blieb weiterhin seine rechte Hand - und enge Vertraute. Für Elli fiel ab jetzt noch
eine ganz andere Art von Arbeit an. Zwar kümmerte sie sich nach wie vor um den nicht
abreißen wollenden Strom von Flüchtlingen, aber sie bewegte sich von nun an in
diplomatischen Kreisen. Nun musste sie von Berufs wegen schöne Kleider tragen, und es fiel
ihr ganz und gar nicht schwer, sich hübsch und gefällig zurecht zu machen. Durch ihre
Ausstrahlung, ihre Bildung und ihre Schönheit hatte sie viele Freunde und Verehrer. Sie vergaß
auch nicht, dass sie vor kurzer Zeit noch alte abgetragene Kleidungsstücke drehen und
wenden musste, um ein neues Teil daraus entstehen zu lassen. Auch die erlittene Hungersnot
ist ihr immer im Gedächtnis geblieben.
Die in Nordamerika ansässige Organisation „JOINT“ sorgte in jenen Jahren für Geldspenden,
damit mehr Schiffe gekauft werden konnten. Bald kamen auch Flugzeuge dazu. Die alten
Frachter wurden so umgerüstet, dass möglichst viele Menschen darin Platz finden konnten.
Gleichzeitig sollten im Schiffsbauch Waffen versteckt werden, auf die die Juden im neu
gegründeten Staat Israel dringend angewiesen waren, um sich im Notfall gegen ihre Nachbarn
verteidigen zu können. Nach langen, vertraulichen Verhandlungen wurden Lieferverträge
abgeschlossen. Eines Tages kam eine Abordnung aus Israel nach Frankreich, um mit Frederik
Thau über einen geheimen Waffentransport zu verhandeln. Auch Elli wurde bei diesem
Gespräch ausgeschlossen, sie erfuhr aber kurze Zeit später, dass in eigens angefertigten
Schiffs-Verstecken die Waffen mit den Passagieren an Bord nach Israel gelangen sollten. Der
französische Zoll, der alle auslaufenden Schiffe inspizierte, sollte dabei umgangen werden. Sie
berieten sich mit einer Vertrauensperson der Zollbehörde, weihten diese in das Geheimnis
ein. Diese Person sollte nun über die Eigenarten und Schwächen des zuständigen
Zollpräfekten ein wenig ausplaudern. Er riet ihnen: „Der Präfekt ist ein leidenschaftlicher
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Feinschmecker, bei ihm kann man viel mit einem guten Essen und einem edlen Tropfen
erreichen. Macht eine Reservierung in dem erstklassigen Restaurant in der Corniche, es liegt
direkt über dem Meer, also schön, ruhig und romantisch. Ladet ihn zum Mittagessen ein, lasst
eine gewisse Zeit verstreichen, und in einem passenden Moment nehmt ihr die Schiffspapiere,
erklärt, dass das Schiff mit den vielen Menschen an Bord bald auslaufen müsse“.
Der Präfekt wurde mit seiner Frau eingeladen, und einige andere hohe Persönlichkeiten der
Behörde ebenfalls. Der Konsul und seine enge Mitarbeiterin - in Gestalt von Elli - empfingen
ihre erlauchten Gäste im Restaurant in der Corniche. Beim Aperitif plauderten sie über die
politische Situation des Landes. Zur delikaten Vorspeise wurde ein erlesener Weißwein
gereicht, inzwischen war eine interessante Unterhaltung im Gange. Zum vorzüglichen Fleisch
wurde ein exquisiter Rotwein kredenzt - und alle waren in bester Stimmung und genossen
das Beisammensein. Beim Dessert spielte der Onkel die Rolle des vergesslichen und
zerstreuten Professors, er schlug sich an den Kopf, unterbrach für einige Momente die
Unterhaltung und erklärte dem Zollinspektor, er habe ganz vergessen, dass eines der Schiffe
zum Auslaufen bereit stehe, er aber noch dazu seine Unterschrift benötige. Der Präfekt, durch
das exzellente Menü gönnerhaft gestimmt, nahm das Papier, unterschrieb, und der
Gedankenaustausch konnte bei Champagner fortgesetzt werden. Frederik Thau nahm das
wertvolle Dokument an sich, steckt es ein und lehnte sich entspannt und erleichtert zurück.
Nach diesem Mittagessen hatte er nichts Eiligeres zu tun als das unterschriebene Schriftstück
dem Kapitän des startklaren Schiffes auszuhändigen.
Bis zum Kriegsende hatte Elli bereits einiges an Höhen und Tiefen durchlebt. Ihre Kindheit und
frühe Jugend - die Geborgenheit - in Wien, die ungewollte Heirat mit einem ungeliebten
Mann in Metz, die Flucht vor den deutschen Soldaten. Hunger, Durst, Kälte waren strecken-
weise ihre Begleiter. Die lange Suche nach der Mutter und die ständige Hoffnung sich mit der
Familie vereinen zu können. Nach so vielen Jahren der Angst und schmerzlichen Entbehrungen
war Elli nun sehr glücklich; sie hatte ihren Angehörigen das Leben retten können - und sie
hatte eine verantwortungsvolle Aufgabe bei ihrem Onkel gefunden. Hier in Frankreich lernte
sie ihren späteren Ehemann, Mosche Yatzkan, kennen. I ‘
Jemand fragte Elli eines Tages, ob sie nicht eine „Wiedergutmachung“ verlangen oder
beantragen wolle? Eine „Wiedergutmachung“ wäre zu schön gewesen, denn dann hätte sie
ihre Jugend, ihre Unbeschwertheit und ihre Fröhlichkeit zurückerhalten und auskosten
können. Aber mit dem Krieg waren ihr in kurzer Zeit alle Illusionen und Ideale abhanden
gekommen. Das Schicksal hatte ihr kein Anrecht auf eine sorglose, lebensbejahende und
unkomplizierte Jugend beschienen und sie hatte nicht das Privileg ihre Schönheit und ihre
Begabungen natürlich und frei zu entfalten. Sie hatte das schwere Los als zartes, weibliches
Wesen ihren Mann stehen zu müssen.
19
Nachwort:
Frau Elisabeth Thau-Koch hat in diesem Bericht darauf hingewiesen, dass nicht alle Nazis
unbarmherzige, rohe gefühllose Bestien waren. Sie hat nur überlebt weil sie an deutsche
Soldaten geriet, die keine Unmenschen und nicht zu dienstbeflissen waren. Vielleicht hat ihre
naiv-charmante Art und ihre jugendliche Frische dazu beigetragen, die Soldaten human, sozial
und mitleidig zu stimmen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass gerade die führenden
Nazigrößen in den Konzentrationslagern eine ganz spezielle und brutale Ausbildung erhielten,
denn sie hießen nicht umsonst „Totenkopfverbände“.
So turbulent wie zu Ellis Geburt, ging es in ihrer Jugend zu, danach wurde es glücklicherweise
etwas ruhiger. Sie heiratete 1954 Mosche Yatzkan aus Israel, den sie im Marseiller Konsulat
kennen lernte. Die Eheleute zogen nach Santo Domingo — in die Dominikanischen Republik —
wo Ellis Mutter bereits seit einigen Jahren bei ihren Söhnen lebte. Elli bekam einen Sohn, den
sie über alles liebte und vergötterte, er wurde 1958 in Santo Domingo geboren. Mittlerweile
hat sie einen Enkelsohn namens Mosche und eine Enkeltochter, die sie beide sehr verwöhnt
hat. Ihre geliebte Mutter, mit der sie auch die letzten Jahre in Santo Domingo zusammen lebte,
starb am 8. August 1962. Im Jahre 1971 starb Mosche Yatzkan, beide liegen auf dem jüdischen
Friedhof in Santo Domingo begraben.
Elisabeth Koch, Thau, Yatzkan lebt heute, im Jahre 1996, in Sosua in der Dominikanischen
Republik.
Frau Thau starb im Juni 2004 in Miami, im Kreise ihrer Familie.
Copyright: Ingrid Decker
20
ZUFLUCHTSORT SOSUA
IN DER
DOMINIKANISCHEN REPUBLIK
Welcher, der vielen Inselbesucher weiß schon von der Entstehung des kleinen, zum Städtchen
gewachsenen Ortes Sosua?Wer von den Billigfliegern, die in Puerto Plata ankommen und dann
an Sosuas herrlichen Baum bestandenen Stränden liegen, ahnen, dass ausgerechnet diese
Gegend einst von europäischen Juden zu dem gemacht wurde, was es heute ist? Es ist ein
blühender üppiger Garten, der sich leider seit Anfang der 90er Jahre durch einen Massen- und
Billig-Tourismus in negative Schlagzeilen geraten ist.
Wer nimmt die, im früheren Zentrum stehende Synagoge wahr, an der täglich unzählige
Urlauber vorbeiströmen? Sie werden auch nicht wissen, dass dieser Ort im Jahre 1940 - 41
von den aus Europa stammenden und geflohenen Juden urbar gemacht wurde und in mühsa-
mer Pionierarbeit entstanden ist.
Der damalige Präsident der Karibikinsel, Hispahola, die sich mit Haiti das Eiland teilt (sie ist
insgesamt 76.900 qkm^ groß), der als Diktator und Unmensch bekannt war, rettete - mehr aus
Eigennützigkeit — vielen Juden das Leben. Er stellte den Verfolgten und Heimatvertriebenen
einen Teil seines Privatgeländes zur Verfügung. Nicht viele Länder folgten seinem Beispiel.
Einige wenige südamerikanische Staaten erbarmten sich ebenfalls der Asylanten. Im Jahre
1938, als kaum ein Land jüdische Flüchtlinge aufnehmen wollte, erklärte sich Präsident Trujillo
bereit, 100.000 Menschen eine neue Heimat zu geben. Es wurden angeblich 5.000 Visa
ausgestellt. Trotzdem geschah im Juni 1939 nichts, als das aus Hamburg ausgelaufene Schiff, die
„St. Louis“, mit 900 jüdischen Exilanten an Bord vergeblich im karibischen Meer einen Hafen
anzusteuern versuchte.
Obwohl viele Menschen ein gültiges Visum für Kuba hatten, weigerte sich der kubanische
Präsident das Schiff mit den um Hilfe suchenden Menschen in den Hafen von Havanna
einlaufen zu lassen, geschweige die Menschen an Land zu nehmen. Der Kapitän des Schiffes
versuchte andere Häfen anzulaufen, aber alle Staaten weigerten sich. Die „St. Louis“ befand
sich fünf Wochen lang auf einer Irrfahrt in der Karibik. Es waren Wochen der Angst und
Hoffnungslosigkeit für die Flüchtlinge.Viele verzweifelte Menschen, die keine Überlebenskraft
mehr besaßen, des Betteins und Ersuchens einer Zufluchtsstätte müde waren, stürzten sich
von der Reling ins Meer. Sie bereiteten ihrem Leben, das anscheinend von aller Welt
unerwünscht war, lieber ein Ende, als nach Europa zurück zukehren. Im Juni 1939 harrten
fast eintausend ausgewiesener Juden wochenlang auf dem Schiff, „St. Louis“ aus.
Nahrungsmittel wurden für die Passagiere mit der Zeit immer knapper. Bevor der Dampfer
sein Ursprungshafen, Hamburg, wieder ansteuerte, nahmen die Niederlande, England und
Frankreich die meisten Flüchtlinge auf. Einige von ihnen, wie der aus Rheydt stammende Josef
Joseph, landeten nach dieser Odyssee mit Frau und Tochter in Amerika. Etliche Passagiere, die
vor den Deutschen auf der Flucht waren, in Holland, Frankreich und England untergekommen
waren, landeten schließlich doch noch in irgendeinem Konzentrationslager.
Der Präsident der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo, schien zu diesem Zeitpunkt
ebenfalls nicht geneigt, sich der in der im Karibischen Meer umherirrenden „Bootsflüchtlinge“
anzunehmen.
Als die europäischen Juden kurze Zeit später endlich ein Visum für den Inselstaat,
Dominikanische Republik, erhielten, weigerte sich Spanien, die Grenzen für die
Durchreisenden, die nach Portugal zu ihren Schiffen wollten, zu öffnen. Monate verbrachten
die Heimatlosen in Lagern nahe der spanischen Grenze, bis sie schließlich eine Genehmigung
zur Weiterreise erlangten. Walter Benjamin, der sich ebenfalls in einem kleinen französisch-
spanischen Grenzort aufhielt, war des Wartens und Ansuchens müde und nahm sich dort in
22
seinem Hotelzimmer das Leben.
Es war kein mildtätiger Akt der Nächstenliebe als Trujillo die Flüchtlinge aufseine Insel holte.
Es galt wohl eher der Aufbesserung seines schlechten Images. Denn zuvor hatte Trujillo durch
das Militär haitianische Wanderarbeiter und ihre Familien umbringen lassen, die auf den
Dominkanischen Zuckerrohrfeldern arbeiteten. Es kam nie genau an die Öffentlichkeit, wie
viele unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten. Die Zahl der Toten wird auf 20 - 30
tausend geschätzt. Trujillo hatte eine regelrechte Abneigung gegen dunkelhäutige Menschen,
für ihn waren sie eine „einfältige, dumpfe und tief stehende Rasse“. Um selbst aristokratischer
(oder gar arischer) auszusehen, puderte sich Trujillo sein Gesicht weiß.
Hilde Domin, die von 1940 bis 1953 in der Hauptstadt Santo Domingo (damals hieß sie
Ciudad Trujillo) lebte, schrieb in ihren Aufzeichnungen „Gesammelte Autobiographische
Schriften“: „Man konnte dem Diktator nicht dankbar sein, man konnte ihm nicht nicht
dankbar sein, er war ein Furcht erregender Lebensretter“. „Viele hat er umgebracht, in
großen Haitianerschlachten aber auch laufend. Viele Flüchtlinge verdanken ihm das Leben. Er
nahm sie auf, um sein Land aufzuweißen, ohne Ansehen ihres politischen Glaubens oder der
Religion und „Rasse“, (nur Schwarz durften die Menschen nicht sein) die spanischen
Republikaner und Kommunisten, die so genannten „Zentroeuropäer“, Verfolgte Hitlers aus
Deutschland, Österreich und den reihum besetzten Ländern. Er ließ sie aussteigen. Und das
war damals viel. Er verlangte keine hohen Geldsummen wie andere Länder, er sortierte nicht
nur die Fachleute mit anwendbarem Wissen für sich aus, Elektroingenieure, Brückenbauer,
Ärzte etc. Er nahm Intellektuelle wie Handwerker und Bauern, er beschäftigte sie, und er
überwachte sie“, (aus dem Buch: „Fast ein Lebenslauf* Fischer- Verlag).
Hilde und Erwin Walter Palm sind nicht über die Organisation JOINT, wie die landwirtschaft-
liche Kolonie in Sosua, ins Land gekommen. Erwin Walter Palm lehrte als einziger Deutscher
an der Universität von Santo Domingo spanisch-amerikanische Kulturgeschichte.Von dort aus
wurde er auf dem ganzen amerikanischen Kontinent und dann auch in Europa bekannt. Erwin
Walter Palm verfasste in Santo Domingo ebenfalls ein Buch, das sich mit den Aufzeichnungen
von „Baudenkmälern der Insel Hispanola“ befasste.
Trujillo, der sein Land 31 Jahre lang in eine Diktatur gestürzt hatte, ließ während seiner
Regierungszeit Universitäten, Kunstakademien, Orchester und Diplomatenschulen aufbauen
und all dies mit der Elite von Exil-Spaniern, die vor dem Franco-Regime auf der Flucht waren
und auf der Karibik-Insel keine Sprachprobleme hatten.
Hilde Palm, geborene Löwenstein, nannte sich später, nachdem sie ihre lieb gewonnene neue
Heimat - die Dominikanische Republik- verlassen hatte nach ihrem langjährigen
Aufenthaltsort, Domin. Sie hatte auf der Insel teilweise als Sprachlehrerin gearbeitet, hier
begann sie mit der Schriftstellerei, schrieb ihr erstes Gedicht und half ihrem Mann bei der
Erstellung seines Buches über die Baudenkmäler des Eilands. Die vielfache
Literaturpreisträgerin hielt fast bis zum Ende ihrer Tage bundesweit Lesungen, denn Schreiben
und Lesen war ihr Lebenselixier. Hilde Domin starb am 22. Februar 2006 im hohen alter von
96 Jahren.
Die 632 jüdischen Exilanten (manche Belege sprechen von 645 Personen), die durch den
JOINT ins Land gekommen waren, hatten nicht nur den Vorzug weißer Hautfarbe zu sein, sie
konnten außerdem das Brachland des Präsidenten, im Nordwesten der Insel, bebauen und es
zu einem ertragreichen und blühenden Garten Eden gestalten.
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Fast alle Neuankömmlinge, die 1940 auf die Insel kamen, waren Deutsche oder Österreicher.
Obwohl die meisten von ihnen Akademiker waren, konnten sie mit Hilfe des ,Agro-JOINT“
mit der Zeit eine erfolgreiche Co-operative gründen, die heute noch für ihre Milch- und
Fleischprodukte im ganzen Land berühmt ist.
Für die Arbeit auf derTropeninsel hatten die Behörden nur junge, rüstige und resistente Leute
angefordert, die kräftig zupacken konnten. Die aus ihrem Land vertriebenen Menschen kamen
in kein Ferien paradies; sie mussten hart um ihre Existenz in der neuen Heimat kämpfen. Das
unwegsame Gelände musste erst einmal gerodet werden. Mit diesem Holz bauten sie
einfache, zweckmäßige Holzhäuser, die dem Klima angepasst waren. Sie kümmerten sich um
die Feldarbeit, denn von irgendetwas mussten sie leben. Da die meisten Emigranten keine
Ahnung von Ackerbau und Viehzucht hatten, auch keine Architekten unter ihnen waren, half
ihnen die jüdische Organisation „JOINT“, die in New York ansässig war, mit Fachkräften aus
Israel aus, die beim Aufbau des Dorfes behilflich waren. Im Laufe der Zeit entstanden zehn
Gemeinschaftsbaracken aus Holz und auch die Synagoge. Die jüdischen Exilanten von Sosua
lebten in diesen einfachen Holzhäusern, die mit je dreißig Betten bestückt - und durch dünne
Trennwände oder Vorhänge abgeteilt wurden. In Pionierarbeit wurde ein Brunnen gebaut, der
vom nahe gelegenen Flüsschen Sosua gespeist wurde.
Der Agrarspezialist, David Stern, nach dem in Sosua auch eine Strasse benannt ist, wurde
eigens aus Palästina zu Rate gezogen. Er riet den Neuanfängern zur Milchwirtschaft, da viel
gutes Weideland zur Verfügung stand. Zu diesem Zweck wurden Milchkühe aus Miami
importiert und bereits nach kurzer Zeit florierte das Geschäft mit Molkereiprodukten. Die
Milchwerke sind bis heute fest in jüdischer Hand und ihre Produkte werden auf der gesam-
ten Insel gern gekauft und sind beliebte Güter.
Die neuen Agronomen hatten ebenfalls Erfolg mit der Hühnerzucht. Sie konzentrierten sich
zusätzlich auf den Anbau von Bananen,Tabak und Zuckerrohr. Gleich in den Anfängen entstand
in Sosua auch ein Krankenhaus, denn die europäischen Neuankömmlinge, die das feucht-heiße
Klima nicht gewohnt waren, waren anfällig für tropische Krankheiten. Bei der Feldarbeit
lauerten ständig Gefahren durch giftige Tiere, eine Malaria konnte für sie tödlich sein. An guten
Ärzten mangelte es ihnen in ihrem Dorf nicht, es waren Berühmtheiten, gar Kapazitäten unter
ihnen.
Als nach einiger Zeit ein Kindergarten und später noch eine Schule errichtet wurden,
machten sie das kleine, neu entstandene und nun blühende Dorf erst richtig komplett. Die
finanzielle Unterstützung bei der Entstehung der neuen jüdischen Siedlung übernahm wiede-
rum die Organisation des „JOINT“ und sobald ihre Mühe und Arbeit Kapital abwarf, zahlten
die Siedler ihre Schulden mit einem geringen Zinssatz zurück. Mit diesem Geld konnten
wieder andere Juden aus Europa gerettet werden.
Nach und nach florierten die verschiedensten Geschäfte, auch der Friseur hatte alle Hände
voll zu tun und langsam konnten sich die Emigranten auf Freizeitbeschäftigung besinnen. Es
wurden Sport- und Fußballclubs gegründet, die gegen einheimische Vereine wie Santiago,
Puerto Plata oder Bonao zum Match antraten. Zur Entspannung und Zerstreuung der
Inselbewohner der näheren Umgebung hatte man ein Kino eingerichtet. Zum Schutz der
Augen trug man damals schon die modern anmutenden 3-D-Brillen, die allerdings nur aus
Papier gefertigt waren. Zur kulturellen Erbauung gab eine junge jüdische Pianistin an den
Wochenenden Konzerte. Sie war es, die später den Nachwuchs unterrichtete. Das jüdische
Dorf war wie eine Insel auf der Insel.
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Nachdem 1945 der Krieg in Europa beendet und Israel 1948 ein unabhängiger Staat
geworden war, hielten es viele auf der tropischen Insel mit dem drückend schwülen Klima
nicht mehr aus. Manche fühlten sich eingeengt und andere suchten nach neuen
Herausforderungen. Speziell die Ärzte suchten nach einem größeren Betätigungsfeld oder
einem professionelleren Wirkungskreis. Viele von ihnen wanderten nach Kriegsende nach
Israel oder in die Vereinigten Staaten ab. Einige zog es sogar nach Deutschland zurück.
Neueingewanderte, die mit dem Landleben nichts anfangen konnten, verstreuten sich auf der
Insel in die größeren Städte wie Santo Domingo, Santiago oder Puerto Plata. Und so
verließen bereits nach wenigen Jahren viele Menschen ihre neu gewonnene Heimat, in der sie
nicht heimisch wurden.
Heute (1995) wohnen kaum noch 25 jüdische Familien in dem kleinen, zum Städtchen
gewachsenen Ort, Sosua. Die jungen Juden sind fast ausnahmslos mit einheimischen Partnern
verheiratet. Manchmal ist es schwierig rechtzeitig mit der Zeremonie in der Synagoge zu
beginnen, da immer mindestens zehn Männer zur feierlichen Handlung zugegen sein müssen.
Nur wenige der sonnenhungrigen Touristen scheinen sich dafür zu interessieren, dass die Insel
außer Palmen, Meer und Strand noch vieles mehr zu bieten hat. Es ist eine sehr reiche Insel,
die nicht nur Feld- und Südfrüchte sprießen lässt, sondern auch tropische Früchte wie Mango,
Papaya, Ananas und Obstsorten, die wir in unseren Breiten gar nicht kennen. In großen
Plantagen wird Kaffee, Reis,Tabak, Bananen und Kakao angebaut. Die Dominikanische Republik
lebt in der Hauptsache vom Export des Zuckers. Die dominikanischen Zigarren stehen den
Kubanischen in der Qualität keinesfalls nach, auch sie sind ein einträglicher Exportartikel. Der
hier hergestellte Rum ist ein beliebtes Touristen-Mitbringsel, auch er ist weltweit berühmt und
anerkannt. Auf der Insel wachsen spezielle harte Holzsorten, (wie Caoba) die besonders zum
Möbelbau geeignet sind. Bodenschätze wie Bakkalit, Nickel, Gold, Bernstein oder Erdöl wird
aus der Tiefe der Erde geborgen.
Das Constanza-Tal ist berühmt für sein kühles europäisches Klima. Erdbeeren, Champignons,
Trauben, Äpfel, Birnen und viele Sorten an Kohl und Gemüse wachsen und gedeihen hier
besonders gut. Auch blüht hier eine ganz besondere Art von Blumen, die sonst auf der ganzen
Insel nicht Vorkommen.
Das Zentrale-Bergland mit seinen üppigen Wäldern, romantischen Flusswindungen,
malerischen Wasserfällen, dem Regenwald und Nationalpark lässt den Besucher ins
Schwärmen geraten. Die höchste Erhebung der Insel ist der „Pico Duarte“, mit seinen 3.075m
ist er nicht nur der höchste Gipfel des historischen Eilands, sondern der gesamten Karibik.
Leider haben die verschiedenen Regierungen immer nur mit den mächtigsten Staaten Handel
getrieben und das Land durch Ausbeutung, Korruption und dunkle Geschäfte ausbluten
lassen. Die Mehrzahl der Einheimischen leben nach wie vor unter dem Existenzminimum.
Ihnen kommt einzig und allein das milde Klima zugute und die noch üppig und wild wachsen-
den Früchte. Auch das Kapital des Touristenbooms geht aJ den Inselbewohnern voHsei, füi**
einen Mindestlohn müssen sie sehr hart arbeiten. Hier machen ausländischen Hotelbesitzer
Kasse. Die Dominikanos sind als faul verschrien, denn anstatt harte Feldarbeit zu leisten,
ziehen sie es vor, mit knatternden Mopeds, (die nicht nur lärmen sondern auch die Luft
verpesten) Urlauber und Einheimische für ein paar Pesos einige Straßenecken weiter zu
befördern. Aber kann man es ihnen verdenken...?
Wenn der Feriengast denkt, dass die jungen Einheimischen, die sich am Strand darum reißen.
25
die Strandliegen - gegen ein kleines Entgelt - an den Urlauber zu bringen, das Geld behalten
können, so hat er sich geirrt. Abends wird von europäischen Nichtsnutzen, (es gibt viele
Steuerflüchtige, Bankrotteure und solche, die ihre Familien im Stich gelassen haben auf der
Insel) die für sich eine Marktlücke entdeckt haben, abkassiert. (Im Laufe von zehn Jahren -
1 995 bis 2005 - haben sich Heerscharen von Straftätern, die der deutschen Justiz entflohen
sind, auf der Karibik-Insel niedergelassen).
Der Bevölkerung wird nicht nur das Geschäft weggenommen, denn die über 300 Imbiss-
Buden, (oder mehr) die am Strand stehen, sind fest in Händen von Deutschen, Schweizern
oder Holländern. Hier können sich europäische Touristen bei hohen Celsiusgraden mit Bier
und Schnaps "erfrischen". Die Inselbewohner werden nicht nur ihrer Arbeit und ihres
Lebensraumes beraubt, sondern ihnen wird auch die Würde genommen. Pataya und
Ballermann 6 in der Karibik lassen grüßen. Ungeniert sieht man blutjunge. Schokoladenbraune
Dominikanas mit ihren rotgesichtigen, sonnenbrandgeplagten und über und über tätowierten
Freiern, die den Super-Macho mimen, umherflanieren. Sie alle scheinen sich über
Aidsprobleme keine Sorgen zu machen. Das ausschweifende Nachtleben und die Prostitution
haben durch den Billigtourismus nicht nur den Ruf des Örtchens Sosua geschädigt, sondern
haben ihn durch Lärm und Freizügigkeit unlebbar gemacht. Der einstige kanadische
Familientourismus, der sich über viele Jahre in Sosua etabliert hatte, um den heimischen
Winter zu überbrücken - ist zusammengebrochen. Sie haben sich andere Urlaubsziele gesucht.
Die ausländischen Hotelketten machen die kleinen lokalen Hotels, Gästehäuser und
Pensionen mit ihren Billigstpreisen kaputt, sie können mit den Super-Spar-Preis-Angeboten
nicht mithalten.
Auf meine Frage an die Bewohner Sosuas, wie sich das kleine Städtchen in den letzten
Jahren entwickelt hat, gab es immer nur eine Antwort: „mucha puta“ ...was „zuviel
Prostitution“ bedeutet.
Ob die wenigen jüdischen Familien heute darüber glücklich sind, dass sie ausgerechnet ihren
Grund und Boden an Deutsche verkauft haben, wage ich zu bezweifeln. Da beschleicht mich
schon eher die Angst, dass bald wieder NS-Zeichen und Hakenkreuze an Hauswände
geschmiert werden — ohne dabei noch an Schlimmeres zu denken....
Copyright: Ingrid Decker
26
TOR
Emigrantenschiffe - Abfahrt in Lissabon
Ankunft in Puerto Plata - Dominikanische Republik
Fotos: Ingrid Decker aus dem jüdischen Museum in Sosua
Rodung der wild wachsenden Natur für den Agraranbau
Links im Bild Ellis Bruder Felix
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Brunnenbau in Sosua
Normaler Arbeitsalltag
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Die ehemaligen Unterkünfte der jüdischen Exilanten dienen heute als Geschäftsräume
Schriftliche Rechtsgrundlage
für die Neusiedler in Sosua
Synagoge in Sosua
Agreement
Dated January 30,1940
Article 1
Rights of Settlers
Dominican Republic
And
Dominican Republic
Settlement Association, inc.
T he Republic, in conformity
with its constitution and
laws, hereby guarantees to
the settlers and their
descendants full opportuni-
ty to continue their lives
and
occupations free from
molestation^ discrimination
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Auiiliar T^cnico del Laboratorio Nacional,
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40
ELLI 1996 IN MIAMI
I
I NACH DEM INTERVIEW
I DURCH DIE „SHOAH-STIFTUNG“
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I
I
I
I
ARGENTINA
706
MEXICO
94 1
AUSTRALIA
2,396
MOLDOVA
236 1
AUSTRIA
137
NETHERLANDS
1.051 1
BELARUS
184
NEW ZEALAND
S3 1
BELGIUM
121
NORWAY
18 1
BOSNIA
33
POLAND
1.047 1
BRAZIL
567
ROMANIA
2 1
BULGARIA
227
RUSSIA
606
CANADA
2,590
SLOVAK REPUBLIC
649
CHILE
65
SLOVENIA
3
COLOMBIA
14
SOUTH AFRICA
248
COSTA RICA
23
SPAIN
1
CROATIA
314
SWEDEN
341
CZECH REPUBLIC
543
SWITZERLAND
58
DENMARK
69
UNITED STATES
17,350
DOMINICAN REPUBLIC 1
UKRAINE
2,095
EQUADOR
9
UNITED KINGDOM
674
ESTONIA
9
URUGUAY
120
FINLAND
1
UZBEKISTAN
25
FRANCE
1,676
VENEZUELA
227
GERMANY
595
REP. OF YUGOSLAVIA
48
GREECE
142
ZIMBABWE
6
IRELAND
3
ISRAEL
6,593
ITALY
97
JAPAN
1
aisnsas^H
KAZAKHSTAN
3
70
LAI VIA
LITHUANIA
133
-83SSS9HI
Liste der weltweit aufgeführten Interviews durch die Shoah-Stiftung vom April 1998
ELLI’S 80. GEBURTSTAG
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I
I
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I
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18.1 1.1998 IN MIAMI '
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I
I
46 ®
I
Ellis 80. Geburtstag, am 18.1 1.1998, richteten ihre Freunde für sie in Miami aus. Ihr jüngerer
Bruder Fritz kam mit seiner Frau Tamar eigens aus Israel angereist. Ihr älterer Bruder aus
Susua konnte aus Altersgründen die Flugreise nicht mehr antreten. Der Sohn ihres Cousins
aus Frankreich, der in Miami vor kurzem ein Cafe eröffnet hatte, nahm die Einladung mit
seiner Lebensgefährtin dankend an und stiftete die Geburtstagstorte. Ansonsten fanden sich
noch einige von Ellis alten Freunden ein und wir alle bildeten eine stattliche Gesellschaft.
Seit September 1996, als Ellis Lebensgeschichte in einem Spielberg-Video der Holocaust
Überlebenden gedreht wurde, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Als ich in der Hotelhalle auf
sie wartete, entdeckte ich sie, wie sie mühevoll vor dem Hoteleingang aus einem Taxi stieg. Sie
hatte sich für ihren Ehrentag neue Kleider gekauft. Mit 80 Jahren hatte sich Ellis Eitelkeit nicht
gelegt. Langsamen und vorsichtigen Schrittes näherte sie sich und begrüßte mich mit einer
herzlichen Umarmung. Auf dem Weg in ihr Hotelzimmer stützte ich sie beim Gehen. Ich
hängte ihre neue Garderobe in den Schrank und dachte an das Telefongespräch vor kurzer
Zeit. Ich hatte nach ihrem körperlichen Befinden gefragt. Sie hatte sich beklagt, dass alles im
Alter nachlasse, die Beine sie nicht mehr trügen, die Sehkraft sich eintrübe und sie dadurch
beim Gehen immer unsicherer würde. Sie monierte, dass ihr Herz nicht mehr das alte sei und
dass es mit dem Gedächtsnis auch hapere. Als ich ihr dann am Telefon sagte, dass ich sehr
gerne zu ihrem 80. Geburtstag kommen würde, verflogen alle grauen und pessimistischen
Gedanken von Krankheit und Schmerz, sie war wie umgewandelt. Wie Komplizinnen
schmiedeten wir Pläne für gemeinsame Unternehmungen. Mit einem Mal waren in ihr
jugendliche Träume entbrannt, sie hegte die Hoffnung alte Zeiten neu zu beleben. Sie freute
sich wie ein Teenager auf den ersten Ball. Als ich sie so schlecht zu Fuß sah, ihre jugendliche
Frische und ihr Elan waren verflogen, dachte ich, dass aus unseren gemeinsamen
Unternehmungen nichts werden würde.
Obwohl sie körperlich sehr nachgelassen hatte, war ihr äußeres Erscheinugsbild
bewundernswert gepflegt. Denn als sie später vor mir saß mit ihrer modischen Kurzhaarfrisur,
den gefärbten Augenbrauen, den rosigen Wangen, ihren geschminkten Lippen und sorgsam rot
bemalten Fingernägeln, hätte sie es mit manch einer jungen Frau aufnehmen können. Ihre Haut
war rein und faltenfrei und wirkte sehr jugendlich. Schmal war Elli geworden, sie achtete sehr
auf ihr Äußeres, selten habe ich eine ältere Dame so eitel erlebt wie Elli, die zu ihrem Fest nun
auch noch abgenommen hatte.
Sie trug zu ihrem 80. Geburtstag einen knallroten Hosenanzug, der sie hervorragend
kleidete. Ihre blauen Augen leuchteten. Sie war wieder einmal, wie schon so oft in ihrem
Leben, Mittelpunkt, und das genoss sie. Über die vielen Gratulanten und Überraschungsgäste
war sie hocherfreut. Als eine Mariachi-Gruppe zum typisch mexikanische
Geburtstagsständchen „Las Mahanitas” aufspielte, hatte sie leichten Tränenglanz in ihren
Augen. Ihr Glück war aber erst vollkommen, als ihr Sohn Georgy und ihr Enkel Mosche zum
Fest erschienen.
Sie trank auch an diesem Abend keinen Wein, weil sie ja bekanntlich nach Alkoholgenuss in
tiefe Melancholie verfällt, sie wollte sich und ihren Gästen den Abend nicht verderben. Bei
beschwingter Musik raffte sie sich sogar zu einem Tänzchen auf, denn Tanzen gehörte ein
Leben lang zu ihren großen Leidenschaften.
Sie erzählte mir später, dass sie erst mit 40 Jahren schwanger geworden sei und sich vom
ersten Augenblick an sicher war, dass ihr Kind ein Mädchen würde. Sie dachte, dass sich ihre
Tochter genau so um sie kümmern würde, wie sie es bei ihrer Mutter getan hatte. Sie selbst
48
war für ihre Mutter ein tötliches Risiko eingegangen, um sie aus den Fängen der Nazis in Wien
zu retten. Als dann ihr Sohn geboren wurde, für den sie zunächst keinen Namen hatte - und
auch keine blaue Baby-Ausstattung - konnte sie sich kaum mit ihrem Schicksal abfinden.
Georgy bekam rosa Schleifchen ins Haar gebunden und musste auch die bereits im Voraus
gekaufte rosa Baby-Wäsche tragen. Mit der Zeit hatte sie sich mit ihrem Schicksal
abgefunden, sie liebte und verwöhnte ihren kleinen Sohn abgöttisch. Sie nahm ihm alle
Schwierigkeiten ab, jede Hürde wurde beseitigt. Sein Wunsch war ihr Befehl. Als er dann als
Medizinstudent eines Tages einen Hang zu schmucken Uniformen zeigte, erfüllte sie ihm auch
diesen Wunsch. Sie konnte ein einflussreiches Regierungsmitglied, wenn nicht sogar den
Präsidenten der Dominikanischen Republik selbst, beschwatzen, so dass ihr Sohn letzten
Endes nach dem Studium als anerkannter Militärarzt - pro forma natürlich - fungieren
konnte. Nun konnte er auf ganz legale Weise seine dunkelblaue, mit goldenen Knöpfen, Litzen
und Streifen, besetzte Uniform tragen, worauf beide - Mutter und Sohn - sehr stolz waren.
Elli hätte ihren Sohn zu gerne lebenslänglich an sich gekettet, so wie sie selbst ihre Mutter -
bis zu ihrem Tod - beschützt, behütet und gepflegt hatte. Dann kam jedoch eines Tages eine
junge, sehr dynamische Frau dazwischen, die die Lebens-Weichen des durchlaufenden
Georgy-Zuges anders stellte. Elli konnte ihr nie wirklich verzeihen, dass sie ihren Sohn aus
Santo Domingo wegholte und ihn nach Miami, Florida, „verschleppte”. Jetzt lechzt sie jede
Minute nach seiner Gegenwart. Ein guter Ersatzmann, dem sie später alle ihre Liebe zuteil
werden ließ, ist inzwischen ihr Enkel, Mosche, geworden, der seinem Vater wohl in vielen
Dingen ähnelt. Wenn er die Schulferien bei seiner Großmutter verbringt, so sagt er ihr
Nettigkeiten wie; „Oma, es ist ganz egal wie Du ausschaust, ob Du schön bist oder nicht, ob
Du Falten hast oder keine, ich liebe Dich so wie Du bist, aber bitte tu mir einen Gefallen,
sterben darfst Du nicht!” Diese Geschichte erzählt Elli gern und oft ihren Freunden und
schwelgt dabei vor Glück. Mit ihrer kleinen Enkelin, die erst zwei Jahre alt ist, kann sie noch
nicht sehr viel anfangen.
Ellis Bruder Fritz, hatte ich bereits am ersten Tag im Hotel kennen gelernt, ein großer
schweigsamer Mann, der mit seiner Frau Tamar aus Israel angereist war. Wir kamen an diesem
Geburtstagsabend angeregt ins Gespräch. Obwohl Fritz Koch damals noch sehr jung war, als
er Österreich verließ, spricht er immer noch mit einem charmanten Wiener Akzent und hat
eine große Portion Humor. Auch mit seiner Frau Tamar, ein Energiebündel und auf allen Töpfen
schaffend, führte ich lange und tiefgründige Gespräche.Tamar ist die Tochter des David Stern,
der vom JOINT in den 40er Jahren von Israel aus in die Dominikanische Republik beordert
wurde, um den Neuankömmlingen, die vielfach Akademiker waren, beizubringen, wie man aus
brachliegendem Terrain, fruchtbares Ackerland gewinnen konnte. Er arbeitete ein oder zwei
Jahre in Sosua und gab Richtlinien für den Anbau von Obst und Gemüse. Die Milchwirtschaft
ist bis heute noch in jüdischer Hand und ihre Produkte werden auf der ganzen Insel verkauft.
Als Tamar als junges Mädchen ihren Vater in Sosua besuchte, verliebte sie sich sogleich in den
gertenschlanken und feingliedrigen jungen Fritz Koch. Später in Israel nannte er sich Rafael
Kochav, da er nicht mit dem Stigma eines deutschen Namens leben wollte. Bei Beendigung
seines Auftrags verließen David Stern und seine Tochter die karibische Insel und Fritz Koch
schloss sich den Beiden an. In Israel heirateten die jungen Leute. Sie lebten außer in Israel noch
in Kanada und Asien, wo auch ihre vier Kinder geboren wurden.
Zurückgezogen lebt das Ehepaar weiterhin in der großen Wohnung in Haifa, das einst mit
Kinderlachen und voller Lebendigkeit erfüllt war. Seit die jungen Leute ihr eigenes Leben leben
49
und teilweise verheiratet sind, ist es still im Gemäuer der Kochavs geworden. Fritz Koch
spricht nicht gerne über vergangene Zeiten. Und wenn er in der Ecke sitzt, grübelnd seinen
Blick in die Ferne schweifen lässt, würde ich gerne wissen, was ihm durch den Kopf geht. Dafür
ist seine Frau gesprächiger und auch noch sehr aktiv. Eine bewundernswerte Frau, die kein
Blatt vor den Mund nimmt und oft und gerne yiddische Anekdoten erzählt. Sie sagte mir, wenn
sie sich etwas im Leben wünschen könnte, so wären es vier zusätzliche Stunden am Tag. Da
aber jeder ihrer Tage mit diversen Aktivitäten vollgepackt und ausgefüllt ist, bezweifle ich, dass
die vier Stunden ausreichen würden.
Ein anderer interessanter Gast an diesem Abend war David Thau, der älteste Sohn ihres
Cousins aus Frankreich, der in Miami eine Bäckerei und Konditorei betreibt. Er steuerte die
riesige Geburtstagstorte bei, die allen Gästen vorzüglich mundete. Leider kam er nur für
kurze Zeit und so ergab sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch. Eigentlich hatte ich
gehofft, dass sein Vater, Charles Thau, aus Frankreich kommen würde, denn seine Lebens- und
Leidensgeschichte hätte mich brennend interessiert. Gerne hätte ich von ihm Details aus der
Zeit im Lager erfahren und gefragt, ob heutzutage immer noch das Brot zu den Mahlzeiten auf
dem Tisch liegen muss. Ich finde es großartig, dass sein Sohn Bäcker und Konditor geworden
ist. Leider liegt das Geschäft seines Sohnes für Charles Thau in all zu weiter Ferne.
Zwei Tage später besuchte ich David Thau mit Tamar in seinem Cafe in der Lincoln Road,
wo wir eine kleine Erfrischung zu uns nahmen. Die Baguetts dufteten, David war gerade
damit beschäftigt eine neue Ladung in den Ofen zu schieben. Der Kuchen sah frisch und
appetitlich aus.
Beim Abschied gab ich Elli die Fotos von ihrem Geburtstag, die bereits entwickelt waren. EIN
war überglücklich und höchst zufrieden, besonders, da sie einige Bilder entdeckte, auf denen
sie mit Georgy und dem Enkel Mosche zu sehen war. Sie bedankte sich überschwänglich. Ich
mussste ihr versprechen, sie bald in Sosua zu besuchen. Da ihr Geburtstagsfest nun vorüber
war, musste sie nach einem neuen „Highlight“ suchen, an das sie sich klammern konnte. Dann
verabschiedeten wir uns mit einer festen Umarmung.
Als wir Davids Cafe verließen, nahm ich auch von Tamar Abschied, vorher hatte sie mir noch
von ihrem Besuch erzählt, den sie heute noch erwartete. Sie und ihr Mann waren im Hotel
mit einem befreundeten Ehepaar verabredet. Die Frau hieß Erika und Fritz kannte sie seit
ihrer gemeinsamen Zeit in Luxembourg. Um die alten Freunde wiederzusehen, kamen Erika
und ihr Ehemann, eigens aus einer Stadt in Florida angereist.
Erika war 1939 ebenfalls mit ihrer Familie nach Luxembourg geflüchtet. Ihr Bruder hatte
bereits ein Visum für die Dominikanische Republik in der Tasche und wartete, so wie die
anderen Ausreisewilligen, auf den genauen Abreisetermin. Auch Erika hätte sich der bereits fast
geretteten Gruppe ihres Bruders anschliessen können. Da aber ihre Eltern - aus Altergründen
- keine Aufenthaltsbewilligung auf der tropischen Insel erhielten, zog sie es vor bei ihren Eltern
zu bleiben. Es wurden nur junge, kräftige dynamische Leute gesucht und Erikas Eltern passten
nicht in dieses Schema. Erika blieb bei Vater und Mutter und begleitete sie sogar ins
Konzentrationslager.
In Luxembourg lernte das junge und außergewöhnlich hübsche Mädchen Fritz Koch kennen
und sie verliebten sich ineinander. Doch schon bald wurden die Beiden voneinander getrennt.
Fritz fuhr mit weiteren 50 unfreiwilligen Emigranten aus Luxembourg mit dem Zug in Richtung
Süden. Anstatt auf direktem Weg nach Portugal zu gelangen, von wo ihr Schiff auslief, landeten
sie zunächst im Süden Frankreichs. Sie blieben noch etliche Monate in dem Lager an der
50
französisch-spanischen Grenze. In dieser Zeit sah Fritz seine Erika und ihre Eltern wieder, aber
auch dieses Mal war das Glück nur von kurzer Dauer, denn ihr Zug fuhr bald darauf in
entgegengesetzte Richtung - nach Auschwitz. Sie verloren sich gänzlich aus den Augen.
Während Erikas Eltern in den Gaskammern verschwanden, hatten sich die Nazigrössen
einige der bildhübschen Mädchen als Gespielinnen auserkoren. Die jungen jüdischen Frauen
mussten ihren Peinigern Gehorsam erweisen und ihnen jederzeit zu Diensten sein. Da die
Jugendlichen um ihr Überleben kämpften, die Unholde im Geheimen abgrundtief hassten,
umschnurrten und umgurrten sie die Höllenfürsten und Todfeinde. Im Laufe der Zeit verloren
die jungen Frauen jede Würde und Selbstachtung. Sie wurden zu Gefühlsautomaten, die man
beliebig an- und abstellen konnte.
Erika überlebte Auschwitz und kam nach dem Krieg nach Marseille in ein Sammel-Lager. Hier
wurde Elli auf ihren Namen aufmerksam, denn sie kannte Erika noch aus Luxembourg. Nun
hatte Elli eine völlig veränderte, kranke Person vor sich. Die Jahre in Auschwitz hatten Erika
zu einem männermordenden Monster werden lassen. Ihre Psyche war aus den Fugen geraten,
sie warf sich jedem x-beliebigen Mann an den Hals. Sie geizte nicht mit Liebeskünsten, wahre
Gefühle, tiefe menschliche Regungen konnte sie nicht mehr empfinden. Nach dem Krieg kam
sie in ein Sanatorium, wo sie nun versuchte, alle Ärzte für sich zu begeistern. Es bedurfte einer
langjährigen Therapie, sie wieder herzustellen. Erika hatte Glück. Unter den Amerikanern, die
in Europa politisch Bilanz zogen, befand sich einer, der sich Erikas Leid und ihrer Krankheit
gefühlvoll und besorgt annahm, sich um sie kümmerte und sie später in Amerika heiratete. Seit
der Zeit lebt Erika in Florida und wann immer sie und ihr Mann die Gelegenheit haben, Fritz
und seine Frau zu treffen, machen sie von dieser Möglichkeit Gebrauch und es gibt jedes Mal
ein herzliches Wiedersehen. Und gerade heute war wieder so ein Tag!
Seit ihrem 80. Geburtstag habe ich Elli nicht mehr gesehen. Noch manches Mal rief sie mich
völlig euphorisch an, immer mit neuen Ideen wie man ihre Lebensgeschichte veröffentlichen
könnte und an wen ich mich wenden sollte. Sie wollte endlich im Alter reich werden. Aber auf
meine vielen Anfragen, einen Film aus ihrer Überlebensgeschichte zu machen, erhielt ich nur
abschlägige Antworten. Als ich wieder nach Europa zog, schrieb ich Elli oftmals lange Briefe,
die aber unbeantwortet blieben. Ich hörte von Freunden, dass sich ihr Gesundheitszustand
ständig verschlechtere. Ihr Gedächtnis ließ nach, sie wurde immer unsicherer auf den Beinen.
Ihr kleines Hotel in Sosua wurde in ein Apartment-Haus umfunktioniert, so konnte sie
wenigsten einigermaßen von den Mieteinnahmen leben. Der größte Schicksalsschlag jedoch
war, als ihr Lebensgefährte, Don Mario, verstarb. Mit seinem Tod verlor sie den letzten Halt.
Don Mario war über 90 Jahre alt geworden, auch er hatte ein bewegtes Leben hinter sich.
Mario Bonci war gebürtiger Italiener und in den 40er Jahren in die Dominkanische Republik
gekommen. Bei einer langen gemeinsamen Busreise von Santo Domingo nach Sosua erzählte
er mir viel über die karibische Insel. Nur aus seinem früheren Leben in Italien erzählte er mir
nichts. Durch intime Freunde, die ihn schon seit langer Zeit kannten, erfuhr ich, dass Mario
über Nacht aus Italien hatte fliehen müssen. Als Angestellter des Vatikan war er durch Zufall
auf irgendwelche geheime Information gestoßen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.
Ob er aus politischen Gründen unter der Herrschaft Mussolinis fliehen musste oder
Geheimnisse des Vatikan aufdeckte, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls muss es
sich um eine schwerwiegende Sache gehandelt haben, sonst wäre der junge Mario nicht in den
51
Kaffeeplantagen im Landesinnern der Insel, untergetaucht. Laut eingeweihter Freunde, hatte
Mario in Italien über eine recht lange Zeit ein Verhältnis zu einer Nonne. Da beide wussten,
dass sie nie zueinander finden würden, schenkten sie sich gegenseitig einen Ring, der sie beide
bis zum Lebensende verbinden sollte. Don Mario hat diesen Goldreif nie abgelegt und bis zu
seinem Tode getragen.
In den 50er Jahren lernte er Elizabeth und Mosche Yatzkan kennen, die in Santo Domingo eine
Metzgerei betrieben. Da Mario wieder einmal auf Arbeitssuche war und Mosche noch Hilfe
im Geschäft gebrauchen konnte, schloss sich der in allen Dingen geschickte „handy man“ dem
Ehepaar an. Er war ein fleißiger, in sich gekehrter, ein grüblerischer, aber äußerst korrekter
Mann. Vermutlich verehrte er im Stillen die Frau seines Chefs, ließ sich aber nie etwas
anmerken. Als Mosche Yatzkan 1 97 1 verstarb, blieb Mario bei Elli und beide führten noch
einige Jahre das Geschäft weiter. Anfang der 80er Jahre zogen sie sich nach Sosua zurück, wo
Elli ein Grundstück besaß. Hier wollten sie ein kleines Hotel eröffnen und von diesen
Einnahmen im Alter leben. Das funktionierte auch in den 80er Jahren, denn viele Touristen aus
Kanada besuchten den damals kleinen Künstlerort mit den romantischen und einsamen
Buchten und Stränden. Sosua war ein gemütlicher und reizvoller Ort, in dem hauptsächlich
Familien Urlaub machten. Die Dominikanische Republik - speziell Sosua - verkam in den 90er
Jahren zu einem Ort des Billig- und Massentourismus. Es entstanden riesige Hotelkästen, die
ihren Gästen freien Alkohol und Gratiszigaretten boten. Elli konnte mit ihren Hotelpreisen
nicht mehr mithalten.Außerdem entstanden in der unmittelbaren Umgebung zwielichtige Bars
und Absteigen. Wummernde Musik dröhnte aus den Lautsprechern und es gab oftmals
lautstarke Schlägereien der betrunkenen Touristen. Die einst einsamen lauschigen Buchten
verkamen zum Ballermann der Karibik mit Würstchenbuden und Bierständen. Als sich der
Sextourismus in Sosua einschlich, stieg die Zahl der aidskranken einheimischen Prostituierten
rasant an. Für Elli wurde das Geschäft immer schwieriger. Hatte sie vorher Verträge mit
großen Reiseveranstaltern, kündigten diese auf Grund der ständigen Kunden-Reklamationen.
Und so lebten sie manchmal von der Hand in den Mund, denn es kamen nur noch
vereinzelte Rucksack-Touristen, die für kurze Zeit, in der sie sich in Sosua aufhielten, nicht viel
Geld ausgeben wollten. Mitte der 90er Jahre vermietete sie die Räumlichkeiten ihres
Gebäudes längerfristig als Apartments, das brachte jeden Monat eine regelmäßige und über-
schaubare Summe ein. Gemeinsam mit Mario überbrückte sie noch einige Jahre in ihrer
kleinen Wohnung und dem Büro, das sich dem Hotelkomplex anschloss. Als Mario im Jahre
2001 starb, nahm Ellis Sohn Georgy sich seiner Mutter an und holte sie zu sich nach Miami.
Endlich war sie dort, wo sie immer sein wollte, in der Nähe ihres Sohnes. Ob sie die
„Heimholung“ noch bei klarem Verstand erleben konnte, ist fraglich. Vielleicht hatte sie zum
Schluss doch noch klare Momente und konnte das Zusammensein mit ihrer Familie genießen.
Ende Juni 2004 verstarb Elli friedlich im Kreise ihrer Familie, ohne dass sie je reich oder
berühmt geworden wäre.
52
MEXIKO
I
I
I
I
I
* UND SEINE JÜDISCHEN EXILANTEN
I
Exilanten in Mexiko
In den fünf Jahren meines Aufenthaltes in Mexiko, habe ich viele jüdische Menschen
kennen gelernt, die Ende der 30er Jahre Nazi-Deutschland und Österreich verlassen
haben. Bevor sie das Land Mexiko, das sie freundlich aufnahm, erreichten, hatten
viele von ihnen eine abenteuerliche Flucht durch verschiedene Länder hinter sich.
Etliche waren noch Kinder als sie sich von ihren Eltern verabschiedeten. Es fiel den
Eltern nicht leicht ihre Kinder -wie sie glaubten - vorübergehend nach Holland oder
England in Heime zu schicken, wo sie ihren Nachwuchs vor den Nazis in Sicherheit
wähnten. Niemand glaubte daran, dass sich Eltern und ihre Kinder nie wieder sehen
würden.
Peter Katz, Bruno Schwebel und Hanns Herzberg schrieben ihre eigenen
Biographien. Hans Neumann, der in meiner Nachbarschaft wohnte und den ich öfter
besuchte, berichtete mir in vielen Stunden über sein außergewöhnliches Leben. Alle
anderen Personen, deren Lebensgeschichte nachfolgend aufgezeichnet ist, habe ich
in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen zu Hause besucht oder bei offiziellen
Anlässen getroffen.
Die erste Überlebensgeschichte ist die von Max Daniel, die im Februar 1997 von der
Shoah-Stiftung auf Video aufgezeichnet wurde, und an der ich teilnehmen konnte.
Die Interviews entstanden in den Jahren von 1996 bis 2001.
Die meisten dieser Exilanten und Zeitzeugen sind in der Zwischenzeit gestorben.
Max Daniel erzählt
Der Erzähler, Max D., der seine Lebensgeschichte der Shoah-Stiftung zur
Verfügung stellte, wurde am 19. September 1924 in Budapest geboren. Er war
der jüngste von drei Geschwistern. Seine Schwester war sechs Jahre alt und
sein Bruder drei Jahre älter als er. Die Familie lebte bescheiden im jüdischen
Viertel von Budapest. Sein Vater war Kantor, die Mutter widmete sich ganz der
Familie und dem Haushalt. Sie lebten in einem größeren Mietshaus,
zusammen waren es in etwa 30 Familien.
Es herrschte ein reges geschäftiges Treiben im jüdischen Viertel. Hier waren
nicht nur die Lebensmittelgeschäfte kosher, nein, auch der Friseur. Es wurde
kosher rasiert, denn in der jüdischen Religion darf keine Waffe den Körper
berühren, also auch kein Rasiermessen. Wer sich keinen Bart stehen lassen
wollte, musste einiges an Tortur über sich ergehen lassen. Zunächst wurde
der Bart mit einer Paste eingerieben und nach einiger Zeit mit einem „Messer“,
das aus Knochen gefertigt war, rasiert. Die Barthaare wurden mehr oder
weniger herausgerissen. Der Klient, der sich unter dem Knochenmesser
befand hatte Höllenqualen zu erleiden und das Schlimme war, man sah ihm
auch danach das Martyrium an. (Vielleicht ließen sich deshalb die meisten
Männer einen Bart wachsen...?!)
Die Familie, die einen guten Zusammenhalt hatte, beging selbstverständlich
am Freitagabend den gemeinsamen „Shabbat“. Die Mutter war es, die vor
dem gemeinsamen Tempelbesuch im Haus die Kerzen anzündete, danach
wurde das Mahl eingenommen. Herr Daniel erinnerte sich noch genau, wie er
an einem Samstag mit seinem Bruder zu einer Kundgebung der Kommunisten
ging, denn beide waren von der Idee der Gleichheit im Kommunismus
begeistert. Da die Eltern wussten wo sich die Beiden aufhielten, machten sie
sich eilends auf den Weg dorthin und zogen die Söhne an den Ohren aus dem
Saal, in dem sich ca. 100 Leute befanden. Das war den Brüdern nicht nur
äußerst peinlich, sondern auch eine Lehre für die Zukunft, sie fehlten an
keiner Shabbat-Tafel mehr. Respekt, Achtung, Wertschätzung und
Ehrerbietung gehörten damals nicht nur zum Vokabular der Menschen,
sondern sie handelten und lebten auch danach.
Die ältere Schwester des Herrn D. besuchte als einzige das Gymnasium, ihr
fiel das Lernen sichtlich leicht, sie war auch sehr belesen. Die Brüder waren
dafür sportlich sehr aktiv. Sie besuchten die normale Staatsschule und hatten
neben der ungarischen Sprache auch Deutsch zu lernen, auch beherrschten
alle Familienmitglieder Jiddisch.
Da die Zeiten in den 30er Jahren nicht rosig waren, die Familie zum
Überleben auch ein wenig mehr Geld benötigte, schickten die Eltern den
jungen, 14jährigen Max, in eine Kürschnerlehre. Sie konnten ihn bei einem
jüdischen Bekannten in der Werkstatt unterbringen, wo er eine dreijährige
Lehre absolvierte. Er bekam einen geringen Lohn, der sich jedes Jahr etwas
erhöhte. In jener Zelt trat er einer kommunistischen Gruppe bei, von deren
Ideen er vollkommen eingenommen war. Diese schienen sich auch gegen den
Antisemitismus zu stellen, der sich in dieser Zeit auch in Ungarn breitgemacht
hatte. Vor allem hatte es dem jugendlichen Max die Gleichheit aller Menschen
1
angetan. Voller Enthusiasmus nahm er an den Vorträgen und auch an den
Ausflügen der jungen Mitglieder der Vereinigung teil.
Als die Deutschen Polen einnahmen, dachte sich der 15jährige noch nicht viel
dabei. Für ihn war Polen weit weg, denn während der ersten Kriegsjahre blieb
Ungarn verschont. Als nun die Nazis ihr Unwesen in Ungarn trieben, war es
für den jungen Max zu spät. Er wurde trotz seines jugendlichen Alters zum
nationalen Arbeitseinsatz gezwungen, mit ihm natürlich viele andere jüdischen
jungen Männer. Sie wurden zunächst auf Härte getrimmt, mussten mit Hacke
und Schaufel Löcher ausheben. Bei dieser Gelegenheit wurden ihnen drei
Spritzen gesetzt. Herr Daniel glaubt heute noch fest daran, dass es Impfungen
gegen drei verschiedene Krankheiten oder Seuchen waren. Was es genau
war, wusste er nicht. Aber er wusste genau, dass die Verabreicher der
Spritzen nicht zimperlich waren. Da wurden recht dicke Hohlnadeln In den
Brustkorb der jungen Arbeiter gejagt, worauf sich alsbald ein taubes Gefühl
einstellte. Aber was half es, es musste weitergearbeitet werden, die drei
Spitzen aber folgten in kurzen Zeitabständen.
Nach der „Einarbeitung“ unter großen körperlichen Anstrengungen folgte die
Freilegung der zerbombten Häuser. Da mussten diese unerfahrenen
Jugendlichen die abgerissenen Köpfe, die noch warmen Beine, Arme oder
sonstige Leichenteile aus den zerbombten Häusern bergen. Später sollten sie
aus einem brennenden Silo retten, was noch an Korn zu retten war. Mit den
Nazis im Nacken, die sie ständig anfeuerten und mit Erschießung drohten,
blieb ihnen keine andere Wahl. Einmal hatten sie eine Schweizer-Fabrik, die
auch von Bomben getroffen war, von Schutt und Asche zu befreien. Ein
anderes Mal wurden sie gezwungen Bomben freizulegen, die während des
Aufpralls nicht detoniert waren. Wie aber konnten sich diese jungen und
unerfahrenen Männer gegen eine Explosion schützen? Überhaupt nicht. Es
war reine Glückssache und deshalb trugen sie die Erde oft nur mit den bloßen
Händen ab. Allerdings war die zweimalige Verpflegung am Tag auf
Staatskosten nicht zu verachten. Hier konnten sie sich wenigstens satt essen,
selbst wer ein zweites Mal in der Reihe stand wurde anstandslos verköstigt,
denn zu Hause waren Lebensmittel rar. So konnte Max seine Familie als
Kostgänger entlasten.
Leider kam es jetzt auch in Ungarn immer öfter zu Deportationen, der Juni
1 943 wurde zum „traurigen Monat“ = dem „juni triste“. Als die Situation Immer
brisanter wurde, versteckte sich der junge Max D. in einem Kohlenwaggon
unter dem Koks und wollte seinen Feinden entfliehen. Er dachte in der
ländlicheren Gegend sei es sicherer, aber kaum war er aus Budapest heraus
gekommen, hatten die Nazis ihn schon am Wickel. Auch er kam, wie die vielen
tausend Menschen vor ihm in den unmenschlichen Viehwaggon mit 90
anderen Leidenden und es begann eine zehn Tage und Nächte lange
Odyssee. Zufälliger- oder glücklicherweise hatte er ein Kilogramm Mohn, fein
säuberlich verpackt, gefunden und konnte sich davon ernähren. Aber das
Schlimmste war der Durst. Durch das kleine vergitterte und einzige Fenster
des Zuges sammelten die Insassen auf einem Löffel Regenwasser auf und
verteilten es unter den Leidensgenossen. Auch Herr D. teilte den Mohn mit
seinen Schicksalsgefährten. Vor allem aber mit seinem Freund Imre, den er
hocherfreut auf diesem Transport wieder sah.
2
Nach zehn qualvollen Tagen und Nächten, wo nur gehalten wurde, um sich
der Leichen zu entledigen, kamen sie in Bergen Belsen an. Der junge Max
wusste nicht, wie er aus dem Zug heraus kam, denn seine Beine waren taub.
Er konnte kaum einen Schritt gehen, er ließ sich einfach wie ein Mehlsack aus
dem Zug fallen und kroch halb wahnsinnig vor Durst auf ein Wasserloch zu
und sog eine ganze Weile lang Flüssigkeit auf, ungeachtet dessen, ob es
sauber war oder nicht. Dass er danach nicht an Durchfall oder an sonstigen
Krankheiten litt, führt er auf die drei Spritzen zurück, die man ihm in Budapest
verabreicht hatte.
Mit 3.000 anderen Ungarn teilte er sein Schicksal, sie alle lebten in einer
Baracke zusammen. Er erinnerte sich noch gut, gegenüber, durch einen Zaun
getrennt, waren die Holländer untergebracht. Sie schienen noch alle wohl
genährt zu sein, zumindest waren bei ihnen noch Muskeln zu erkennen,
während bei den meisten Ungarn nur die Rippen zum Vorschein kamen.
Später, nach dem Krieg wurde Max gewahr, dass auch Anne Frank in der
holländischen Baracke, Jenseits des Zauns, lebte. Es sollte ihr letztes Zuhause
werden, sie starb kurz vor der Befreiung.
Mit Imre, seinem langjährigen Freund, teilte er nicht nur die Holzpritsche,
sondern sie ermunterten sich auch gegenseitig und rüsteten sich fürs
Überleben. Während einige orthodoxe Juden sich in Gebete, Gesänge und
Meditation begaben, sorgten sie für körperliche Fitness, sie wollten es ihren
Feinden nicht zu einfach machen.
Die Verpflegung in Bergen Belsen war unmenschlich, das Mittagessen
bestand aus „Dörrgemüse“, was immer das heißen sollte. Es bestand aus
irgendwelchen Baumrinden oder Wurzeln, denen etwas Salz und Pfeffer
beigefügt war, also eine kaum genießbare Brühe. Niemand riss sich um den
Sud, aber man löffelte ihn um zu überleben. Morgens wurde ein ca. sieben cm
großes Stück Brot verteilt, dazu gab es ein braunes Gebräu, das sich Kaffee
nannte, aber nichts damit gemein hatte. Herr D. wundert sich heute noch, wie
manche von ihren sieben cm großen Brotstücken noch drei oder vier
Zentimeter verkaufen konnten. Zwar gab es kein Geld und keine
Tauschwaren, aber man versprach nach dem Krieg alles In Dollar zurück zu
zahlen. Oder man gab Adressen von Verwandten an, die die Schuld
begleichen würden. Aber gerade diese Menschen starben frühzeitig.
Wie in allen Lagern war auch hier die Plage der Wanzen sehr groß, sie saßen
in den Kleidern, im Holz der Pritschen und auf der Haut, wo sie den mageren
Menschen das ohnehin spärliche Blut abzapften und Infektionen verursachten.
Auf Hygiene konnte bei den vielen tausend Menschen nicht geachtet werden,
und obwohl Bergen Belsen kein Vernichtungslager durch Gasöfen war,
starben trotzdem viele Menschen an Krankheiten und Seuchen. So wurde
auch bei den sanitären Anlagen gespart, eine Grube mit einem Balken musste
ihnen reichen. Auch Privatsphäre war hier nicht angesagt, im Gegenteil. Wenn
ein Häftling nachts seine Notdurft verrichtete, beschienen ihn die Scheinwerfer
der Wachtürme und so wurde er noch verspottet und verlacht.
3
Im Frühjahr 1945 wurde es plötzlich sehr geschäftig im Lager, es kam
irgendwie Unruhe auf, aber niemand wusste sie zu deuten. Alle Insassen
mussten in den Duschraum, wurden vorher am ganzen Körper geschoren.
Nachdem ihre Körper von Haaren befreit waren, sahen sie erst, wie sehr sie
von Läusen und Flöhen heimgesucht und geschunden waren. Kurze Zeit
später fuhren wieder Transporte, weg von Bergen Belsen, nach
Theresienstadt. Diese Zugfahrt dauerte nur drei Tage, aber auch hier gab es
weder Flüssigkeit noch feste Nahrung. Jedoch Theresienstadt bereitete ihnen
eine Überraschung, sie fanden keine einfachen Holzbaracken vor, sondern
festes MauenA/erk und große Räume. Das Lager war wie eine Stadt, in der
sich jeder frei bewegen konnte, und auch das Essen war nicht gar so
„saumäßig“ wie zuvor.
Es sollten jedoch noch einige Wochen vergehen, bis die Befreier, die Russen,
kamen. Durch das kleine vergitterte Fenster seines Zimmers hatte Max D. eine
freie Sicht auf eine Strasse und im Hintergrund die Berge. Er sah eines Tages
wie die Deutschen fluchtartig Theresienstadt verließen, und beim Wegrennen
noch ein paar Salven auf die Gefangenen abschossen. Das dichte Mauerwerk
ließ es zu keinem Todesfall kommen, höchstens hier und da gab es einen
Streifschuss. Bald danach nahten mit großem Getöse und einem Höllenlärm
die russischen Panzer. Max, sichtlich geschwächt (er wog nur noch 33 kg)
wollte seinen Befreiern entgegen eilen, weit kam er nicht. Als ein Russe ihm
einen freundschaftlichen Klaps versetzte, fiel er um. Da die Russen auch
Proviant mitbrachten, Max von den fremden Lebensmitteln kostete, machte
sein Magen schlapp, denn er war ja nur an dünne Wassersuppe gewöhnt. Er
bekam einen fürchterlichen Durchfall mit hohem Fieber und wurde in das
provisorische russische Lazarett gebracht, was für ihn genauso schlimm wie
das Lager selbst war. Man behandelte Max mit dem Wenigen was ihnen zur
Verfügung stand, außerdem verstand er seine Helfer nicht und sein Zustand
besserte sich nicht im Geringsten. Er versuchte zu fliehen, wurde jedoch
wieder ohnmächtig, landete aber dieses Mal bei einem tschechischen Arzt,
den er zwar ebenso wenig verstand, der ihm aber letzten Endes auf die Beine
half.
Vom Tag des Kriegsendes -am 8. Mal bis Ende Juli- musste Max D. in
Quarantäne bleiben. Danach hatte er so viel an Gewicht zugelegt, dass er
seine „Heimreise“ nach Budapest antreten konnte. Vorher jedoch, als er sich
nach der Haftzeit und vor allem nach seiner Krankheit zum ersten Mal im
Spiegel sah, war er von seinem eignen Spiegelbild so geschockt, dass er in
tiefe Depression verfiel. Er konnte sich selbst nicht mehr akzeptieren. In dieser
Phase ohne Lebensmut und tiefer Traurigkeit traf er auf seinen alten Freund
Imre, der ihm neue Hoffnung, Daseinsfreude und Zuversicht vermittelte.
Während Max noch im Lager verharren musste, konnte sein Freund in die
Heimat reisen.
Im Juli 1945 war es dann endlich soweit. Die Züge waren überfüllt mit
Menschen, so reiste er, wie viele andere auch, auf dem Dach des Zuges, mit
dem Rücken In Fahrtrichtung, damit er dem Dampf entging, in Richtung
Heimat. Obwohl es eigentlich nur eine Fahrt von wenigen Stunden gewesen
wäre, brauchte der Zug drei Tage. Oft mussten die Gleise frei geräumt
werden, denn überall am Wegrand lagen Waffen und Kriegsmaterial herum.
4
Brücken konnten nicht so einfach überfahren werden, denn sie waren
teilweise zerstört, und so zögerte sich die Fahrt hinaus.
Angekommen in Budapest, erkannte er seine Heimatstadt kaum wieder, denn
70% der Stadt war durch Bomben zerstört worden. Natürlich fand er den Weg
zu seinem Elternhaus, nur überkam ihn die bange Frage, lebt die Familie
überhaupt noch? Es wurde ihm immer elender zumute, das letzte Stück des
Weges lief er seinem Haus entgegen. Gott sei Dank, es stand noch
wohlerhalten da. Er stürzte in den Hausflur, es erkannten ihn auch sofort
Nachbarn die laut schrieen und schon eilte ihm seine Mutter im Laufschritt
entgegen, obwohl sie eigentlich gehbehindert war und kaum laufen konnte.
Welch ein überschwängliches Wiedersehen war dies für die beiden
Menschen.
Der junge Max war noch nicht einmal 21 Jahre alt und hatte bereits das
Schicksal eines alten Menschen - oder das mehrerer Menschen erlebt. Er war
immer noch so geschwächt, dass an Arbeit vorerst gar nicht zu denken war.
Zunächst musste er mit Vitaminen hochgepäppelt werden, die seine Mutter
ihm gerne besorgte. Damit beide überleben konnten, suchte die Mutter eine
Arbeit. Nun erfuhr Max auch vom Schicksal seiner Geschwister und seines
Vaters. Der Vater wurde deportiert und starb im Lager. Seine Schwester
überlebte die Zugfahrt mit 90 anderen Menschen nicht, sie starb unten^^egs,
und ihre Leiche wurde aus dem Zug geworfen. Niemand weiß wo sie liegt,
anonym, ohne Grab, ohne Gedenkstein wurde sie verscharrt.
Sein Bruder, der sich den russischen Kommunisten angeschlossen hatte,
wurde von seinen Genossen im vereisten Graben liegen gelassen als er nicht
mehr weiter konnte. Ihm waren die Beine bis zu den Knien abgefroren,
niemand half ihm zu überleben. Nicht nur diese Begebenheit, sondern das
gesamt schreckliche Verhalten der Russen, die schlimm in Ungarn gewütet
hatten, die Frauen und Mädchen vergewaltigten, Raubzüge veranstalteten und
wie die Wandalen einfielen, blieb bei Max D. mit Bitterkeit haften. Das war
nicht mehr das alte Idealbild das er von den Kommunisten hatte, nun graute
ihm vor ihnen.
Da er schon bald von den Russen den Einberufungsbefehl bekam, wollte er so
schnell wie möglich Ungarn verlassen, was aber nicht ganz einfach war. Er
wandte sich an die International vertretene jüdische Organisation JOINT, die
auch in Budapest tätig war, sie wollten ihm zu den nötigen Papieren verhelfen.
In der Zwischenzeit bekam er sogar einen kleinen Posten beim JOINT, so
dass er ständig auf dem Laufenden war. Am Nachmittag konnte er erneut bei
seinem alten Chef, dem Kürschner, ein paar Groschen dazu verdienen. Er
erhielt das ersehnte Ausreisepapier für sich und seine Mutter und die Reise
ging zunächst nach Italien. Zwei Tage später wurde niemandem mehr eine
Ausreiseerlaubnis erteilt.
Zuerst lebten sie in Venedig, später In Genua. Nun konnte Max zum ersten
Mal nach langer Zelt tief durchatmen, sich frei fühlen und eine Ruhepause
einlegen. Allerdings musste ihre Aufenthaltserlaubnis alle drei Monate
verlängert werden. Bis er einen alten Juden in der Nähe von Rom fand, der
ihm durch einen manipulierten Stempel „gültige Ausweispapiere“ verschaffte.
5
Nun konnte Max mit seiner Mutter ausreisen wohin er wollte, und die
Befürchtung ins kommunistische Ungarn zurück zu müssen, war gebannt.
Da sie Verwandte in Mexiko hatten, die ständig drängten, sie möchten doch zu
ihnen kommen, nahmen sie eines Tages diese Gelegenheit wahr und fuhren
von Genua aus in Richtung Südamerika. Sie waren einige Wochen mit dem
Schiff unterwegs und in Mexiko wurden sie ganz herzlich von ihren
Angehörigen empfangen. Max konnte auch gleich in das Geschäft seines
Onkels einsteigen und sein eigenes Geld verdienen. Bald danach traf er auf
einer Hochzeit die Frau seines Lebens, die er kurze Zeit später heiratete.
Sarah hieß seine Angebetete und war die Tochter von litauischen Juden. Die
Familie war bereits in den 20er Jahren nach Mexiko gekommen und führten in
der Nähe von Veracruz ein Möbelgeschäft. Schon bald kam ihre Tochter auf
die Welt und sechs Jahre später ein Sohn. Heute haben Max und Sarah drei
Enkelkinder. Die Familie ist sehr eng miteinander verbunden. Trotz der
grausamen, ja unmenschlichen Jugend, der Verlust der Familienmitglieder
unter tragischen Umständen, ist Max trotzdem ein Optimist geblieben. Er hat
immer eine schelmisches Blitzen in den Augen und einen Scherz auf den
Lippen. Am meisten freute mich zu sehen, welch netten und liebevollen
Umgang und Zusammenhalt Sarah und Max heute noch pflegen, die nach all
den Jahren enger verbunden sind denn je. Ein gutes Beispiel für uns alle.
Bewundernswert!
6
DIE VIELEN KAFFEESTUNDEN
BEI
HANS NEUMANN
Herr Neumann in seiner Wohnung in Polanco
Hans Neumann und die vielen Kaffee-Stunden
Da Hans Neumann in Mexiko in meiner Nachbarschaft wohnte, besuchte ich ihn
öfter in seiner Wohnung in Polanco, wo wir uns angeregt unterhielten und er mir
aus seinem langen Leben erzählte. Mich interessierte besonders die Zeit, die er in
der Dominikanischen Republik verbracht hatte und nach vielen Begegnungen
kamen zahlreiche ergiebige Details zutage. Bevor ich nach Deutschland zurück
kehrte überließ er mir sogar einige Fotokopien aus seinen persönlichen
Dokumenten.
Hier ein kurzer Abriss von einem Gespräch, das am 10.5.2000 in Mexiko City, bei
Hans Neumann, stattfand.
Hans Neumann wurde am 10.10.1910 in Graz geboren. Seine Eltern besaßen in
Graz eine Ziegelei und stellten feuerfestes Material für Brennöfen her. (Schamott)
Auch Hans Neumann erhielt eine entsprechende Ausbildung, um die Fabrik seiner
Eltern einmal zu übernehmen, er studierte Chemie.
Einen Teil seines Studiums absolvierte er in Prag, wo er Egon Erwin Kisch zufällig
in einem Gasthaus kennen lernte. Die jungen Studenten, Freunde Hans
Neumanns, wollten sich im Sommer in einem Lokal mit einer Limonade erfrischen,
als sie einer Ecke den leicht angetrunkenen Schriftsteller Egon Envin Kisch
entdeckten, der sie um ein Freibier bat. Sie unterhielten sich eine ganze Weile und
zahlten Kisch von ihrem kargen Taschengeld ein alkoholisches Getränk und zogen
weiter. Später, in Mexiko, traf Hans Neumann erneut auf Egon Erwin Kisch, der
sich jedoch nicht mehr an diese Begebenheit in Prag erinnern konnte. In den 40er
Jahren hielt sich auch Anna Seghers in Mexiko im Exil auf und Hans Neumann traf
sie bei gewissen Anlässen. Auf meine Frage, wie er Anna Seghers fand,
antwortete er nur: „Rot, Rot, Rof . Die Exil Kommunisten waren Ihm wohl nicht
geheuer.
Herr Neumann erzählte mir, dass sich die polnischen und russischen Juden an den
alten “Brauch” hielten und 1/10 ihres Einkommens für wohltätige Zwecke abgaben.
In diesem Fall bekam der “JOINT” diese Abgabe und konnte damit bedürftigen
Menschen helfen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und nichts mitnehmen
durften. (American Distribution Committee). Jedes Land hatte eine bestimmte
Quote zu erfüllen und hat jeden Monat Gelder zur Verfügung gestellt. Die Dollar
wurden nach England geschickt und in Pfund eingewechselt.
Hans erzählte mir, dass von den Exilanten die Rechtsanwälte die geringste
Chance hatten ihren Beruf auszuüben, da sie oftmals der fremden Sprache nicht
mächtig waren. Sie wurden umgeschult und wurden oft einfache Handwerker, wie
Tischler oder Installateure. Argentinier haben von “Neueinwanderern” während des
Zweiten Weltkrieges Vorzeigegelder verlangt.
1
Als Hitler im März 40 nach Prag einmarschierte, hat es dort viele Kommunisten
gegeben. Manche von ihnen ergriffen die Flucht durch unterirdische Gänge und
Tunnel eines Kohlenbergwerks, das nahe an der Grenze zu Polen lag. Politisch
Verfolgte wurden ebenfalls nach Polen geschleust.
Hans Neumann ging von Prag nach Mailand. In Prag hatte er für die jüdische
Organisation Hitzem gearbeitet und wurde in Mailand wieder von einer jüdischen
Organisation mit offenen Armen empfangen. Die Österreicher erhielten nach dem
^Anschluss“ deutsche Pässe. Als man bei Hans Neumann das “J” für Jude“ im
seinem Pass einzustempeln vergaß, konnte er sich in Europa relativ frei bewegen.
Er wurde von seiner Organisation in die Schweiz geschickt. Dort kam am er am
30.8.39 an, übernachtet in Lugano, und weil er kein gültiges Visum besaß, wurde
er am 1.9.39 festgenommen und kam ins Gefängnis. An diesem Tag war just der
Zweite Weltkrieg, ausgebrochen. (Mobilmachung, Kriegsausbruch).
Hans Neumann kam in ein Flüchtlings -und Arbeitslager und wurde gezwungen im
Straßenbau zu arbeiten. Hier, in der Schweiz traf er auf einen Herrn Throne aus
Santo Domingo, der auf der Suche nach Arbeitskräften für die Dominikanische
Republik war. Nach einer internationalen Konferenz (in Vichy) nahmen nur noch
Liechtenstein, die Schweiz und die Karibik Insel Dominikanische Republik jüdische
Flüchtlinge auf. Hans Neumann war selbstverständlich daran interessiert Europa
zu verlassen und meldete sich für die Überfahrt in die Karibik. Er zahlte nur die
Hälfte der Schiffspassage selbst, der Rest wurde von zwei jüdischen
Organisationen - Bna Brit und eine andere- übernommen.
Großzügig, wie sich Trujillo, der Präsident der Dominikanischen Republik immer
gab, wollte er 100.000 verfolgten Juden auf seiner Insel ein Zuhause geben. In
Wirklichkeit rettete er nur 645 Menschen vor dem sicheren Tod.
Im Februar 1941 fuhr Hans Neumann von Genf aus ins unbesetzte Frankreich,
über Spanien nach Portugal, wo er noch zwei Monate auf seine Ausreise warten
musste. Laut Herrn Neumann fuhr er auf der “Serpa Pinto”, dem berüchtigsten
Emigrantenschiff und übernachtete im Frachtraum in einer Hängematte.
Gleich am Anfang hatte er auf dem Schiff eine Breslauer Fabrikantenfamilie
kennen gelernt, die ihn wohl sehr gerne mochte und ihn tagsüber in die 1. Klasse
einlud. Dem Kapitän erzählten sie, Hans müsse ihren Kindern Unterricht erteilen.
In New York kamen sie, wie alle Emigranten, nach Ellis Island und blieben dort 14
Tage. Unter großer Bewachung wurden die Auswanderer zur “Puerto Rican Line”
geführt, die sie nach Santo Domingo brachte. Zu der Zeit hieß die Hauptstadt noch
“Ciudad Trujillo“ Nachdem die ca.20 Neuankömmlinge das Schiff verlassen hatten,
wurden sie von einem Kommittee in Empfangen genommen.
Hans Neumann kam im Jahre 1941 nach Sosua, wo bereits der Agro-Joint mit den
Gemüseanpflanzungen und dem Hausbau alle Hände voll zu tun hatte. Hans aber
war kein geübter Landarbeiter. Da er von Beruf Chemiker war und in Graz in der
Ziegelei seines Vaters gearbeitet hatte, kam ihm zugute, dass die Regierung des
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\
Inselstaates Siedlungen aus Ziegelsteinen erstellen wollte. Er zeigte seinen
dominikanischen Gehilfen, wie zunächst die Holzformen gefertigt wurden, in denen
die Handschlagziegel geformt - und später gebrannt wurden. Wie Hans Neumann
erzählte, stellten sich die Dominkanos bei dieser Arbeit sehr geschickt an und
arbeiteten fleißig und umsichtig. Jedoch scheiterte dieses Projekt daran, dass die
Ziegelsteinhäuser für die Subtropen nicht geeignet waren oder sind, da sie
Feuchtigkeitsdurchlässig sind, ater keine Ventilation zulassen. Nur für den
Unterbau wurden später die Ziegelsteine verwendet, der Rest der Häuser entstand
aus Holz.
Es gab in dem Dorf Sosua am Anfang keine Elektrizität und auch keine kaltes
Wasser. Getränke mussten lauwarm getrunken werden, Eiswürfel gab es nicht.
Nur der Bäcker, der auch Torten machte, hatte ein Kühlaggregat, „einen
elektrischen Eiskasten“, wie Hans sagte. Zu ihm ging auch das meiste
Taschengeld, die spärlichen 10 $ pro Woche. Es gab damals nur zwei
Zigarettensorten, die “Hollywood”, aus gebleichtem Tabak, oder eine
Naturbelassene, ohne Präparation, die verkaufte der Bäcker auch. Nachdem der
Versuch der Ziegelsteinhäuser gescheitert war, kam Hans Neumann in Sosua in
die Verwaltung für die Gemüse- und Obstverteilung, diese Art von Arbeit lag Ihm -
seiner Aussage nach- ebenfalls nicht.
Die jüdischen Exilanten in Sosua lebten in Holz-Baracken mit je 30 Betten, die
durch dünne Trennwände oder Vorhänge abgeteilt waren. Ein gewisser Herr
Schweitzer war leitender Direktor dieser kleinen Kommune.
Eines Tages wurde Hans Neumann von Rafael Trujillo in die Hauptstadt zitiert und
es herrschte große Aufregung im Dorf Sosua, denn man wollte auf jeden Fall und
unter allen Umständen einen guten Eindruck auf den Präsidenten Trujillo machen.
Herr Schweitzer stellte Hans seinen Chauffeur zur Verfügung, der ihn zum
Regierungspalast nach Ciudad Trujillo brachte. Nach einem Vorgespräch mit dem
Minister “Paino Pichardo”, wurde Hans zum “Benefactor” vorgelassen. Sein
Spanisch war noch sehr dürftig und sie brauchten einen Übersetzer. Trujillo wollte
eine keramische Industrie aufbauen und brauchte dazu seine Hilfe. Hans
Neumann sollte sich um die Erzeugung von Ziegel- und Fußbodenplatten
kümmern und war von nun an Trujillos Privatangestellter. Er bekam 60 $ für Kost
und Logis und 100 $ Gehalt zu seiner freien Verfügung. Er wohnte zunächst im
Hotel Jaragua, dann suchte er sich eine bescheidenere Bleibe und eine Freundin,
die ihm Spanisch teibrachte, denn in einem Monat wollte “El Jefe” Hans wieder
sehen und sich mit ihm unterhalten können. Herr Neumann hielt Ausschau nach
der richtigen Tonmischung und erkundigte sich nach geeigneten Maschinen, die er
in den Vereinigten Staaten fand. Nachdem er zwei Jahre lang die Fabrik aufgebaut
hatte, hoffte er Leiter des gesamten Werkes zu werden, ater es kam anders.
Trujillo schickte seine Neffen und eine Abordnung in die Staaten, die dort eine
spezielle Ausbildung erhielten und das später das Werk leiteten. Hans Neumann
war enttäuscht und fühlte sich übergangen, ater der Benefactor hatte bereits eine
neue Aufgabe für ihn. Er leitete von nun an das staatliche
3
Untersuchungslaboratorium. So kam es, dass er am Sonntag die Dopingkontrolle
bei den Rennpferden übernahm, wobei die Pferde von Trujillo ausgespart blieben.
Wenn Not am Mann war, half Hans Neumann auch beim Verabreichen von
Spritzen an Prostituierte, die alle vierzehn Tag auf Geschlechtskrankheiten
untersucht wurden. Diese Frauen erhielten zur Vorbeugung prophylaktisch eine
ordentliche Dosis Antibiotika injiziert.
Als einmal eine Leiche auf Mord untersucht werden musste, der Pathologe gerade
nicht zur Stelle war, übernahm Hans die Analyse und stellte bei der ersten Probe
fest, dass das Opfer vergiftet worden war. Er erzählte mir, dass es eine tödliche
Pflanze gibt, deren Giftstoff eine halbe Stunde nach Einnahme, im Körper nicht
mehr nachweisbar ist.
Als Trujillos jüngster Sohn, Rafaelito, nach einer schweren Krankheit nicht
genesen wollte, musste unser Zeitzeuge, Hans Neumann, über Monate die Leber
von Haien extrahieren und die kostbare und stärkende Flüssigkeit, abgefüllt in
Flaschen, dem Präsidenten persönlich übergeben. (Wie mich Herr Neumann
aufklärte, soll die Dorschleber die Ergiebigste sein, aber in diesem Falle hatte die
Haileber eine stärkere Wirkung, außerdem gab es reichlich von ihnen).
Hans Neumann kam zu Ohren, dass Trujillo, der ihn wohl ins Herz geschlossen
hatte, ihn mit einer Nichte, die in Paris an der Sorbonne studiert hatte, verheiraten
wollte. Das war eine beliebte Masche des Präsidenten, durch den
Ven/vandtschaftsgrad konnte er die Menschen besser kontrollieren und
manipulieren. Hilde Domin, die selbst 12 Jahre in der Dominikanischen Republik
gelebt hatte schrieb in ihrem Buch “Gesammelte Autobiographische Schriften”:
“Trujillo sortierte nicht nur die Fachleute mit anwendbarem Wissen für sich aus,
Elektroingenieure, Brückenbauer, Ärzte etc. Er nahm Intellektuelle wie Handwerker
und Bauern, er beschäftigte sie und er überwachte sie".
Da überkam Hans die Panik (dabei soll sie nach seiner Aussage eine hübsche
Mulattin, Hautfarbe: Cafe con Leche, gewesen sein). Noch bevor Trujillo ihn selbst
mit dieser Neuigkeit überraschen konnte, gab er vor nach Mexiko reisen zu
müssen, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. In der Tat hatte Hans einen
Cousin in Mexico City, dem er zuvor geschrieben und um ein Visum gebeten hatte.
Dieser Cousin reagierte zum Glück auch prompt und Hans konnte bei Trujillo um
Urlaub bitten. Er gab ihm großzügig drei Monate frei und reichlich Mittel was seine
Reisekosten anbelangte. Natürlich setzte Trujillo voraus, dass er ihn nach drei
Monaten wieder sehen würde...
Als die Zeit abgelaufen war, setzte sich Hans Neumann mit der Dominikanischen
Botschaft in Verbindung und erklärte, dass er nicht mehr zurückkommen könne.
Inzwischen hatte er in Mexiko Emmi Pollock geheiratet, die aus Gelsenkirchen
stammte und in Glasgow Malerei studiert hatte.
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Hans Neumann lebte von 1941 - bis 1947 in der Dominikanischen Republik.
Mexiko ist in der Zwischenzeit jedoch sein Zuhause geworden. Er ist oft nach
Europa gereist, hat auch Österreich besucht, ist aber immer wieder gerne nach
Mexiko zurückgekehrt. Mit seinen fast 90 Jahren ist er geistig und körperlich noch
sehr rege. Er gehört noch zu den Kavalieren der alten Schule, begrüßt die Damen
immer noch mit Handkuss. Er ist ein netter, charmanter Unterhalter und nimmt
noch an allen Dingen des (nicht nur jüdischen) Lebens teil.
Am 10.10.2000 wurde Hans Neumann 90 Jahre alt und ist immer noch ein rüstiger
alter Herr, der täglich seine Spaziergänge macht, ohne Brille liest und auch noch
fast alles essen kann. Er ist noch oft unterwegs, nimmt an Gesprächskreisen,
Tempelbesuchen, Ballettaufführungen und Reisen teil. Im Januar 2001 hat er eine
Schiffsreise unternommen, die ihn nochmals in seinen 6jährigen Aufenthaltsort,
Santo Domingo, geführt hat. Er schwelgte in alten Erinnerungen.
Im Sommer 2004 geht es ihm gesundheitlich nicht mehr so gut, aber er ist
trotzdem noch rüstig und in der Lage an kleinen Ausflügen teilzunehmen.
Am 22. Juni 2005, nachmittags um 15 Uhr 30 verstarb Hans Neumann in seiner
Wohnung in Polanco, im Oktober wäre er 95 Jahre alt geworden. Im Mai war er
noch in Ixtapa zu einem Badeurlaub unterwegs. Dort stürzte er auf dem rutschigen
Boden des Badezimmers so unglücklich, dass er sich davon nicht mehr erholte.
Außer einem Neffen, der in London lebt, hat er keine Angehörigen. Er wurde auf
einem kleinen jüdischen Friedhof im Süden der mexikanischen Hauptstadt
beigesetzt.
Copyright: Ingrid Decker
5
TCLEPHONK
irtlanot 7 -as 16
••DOR8A”
I DOMINICAN REPUBLIC SETTLEMENT
165 BROADWAY
■ SUITE 1S27
NEW YORK
BOARD OF DIRECTORS
(MES N. ROSENBERG. PRESIDENT
SEPH A. ROSEN. VICE-PRESIDENT
.EON FALK. JR.. CHAIRMAN Ex. COM.
IRNHARD KAHN. TREASURER
S. RUBY F. MOSES. ASST. TREASURER
HN CLANCY. SECRETARY
iIRS. REBECCA HOURWICH REYHER
■ Executive Secretary
JOSEPH C. HYMAN
RUFUS M. JONES
ALEXANDER KAHN
EDMUND I. KAUFMANN
LOUIS KENEDY
CLARENCE E. PICKETT
V
DOMINICAN REPUSUC OFFIC
David J.Schwritzcr. Direct'
MALECON 27
Carle Address
••DORSA"
ASSOCIATION. Inc.
IRVING A. SARTORIUS
DAVID J. SCHWEITZER
WILLIAM B. THALHIMI
RAFAEL L. TRUJILLO
ALFRED WAGG. 3RD
GEORGE L. WARREN
1
i
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I
REPUBLICA oominicana
Secretaria de Estado de Sanioao y Asistencia Publica
LABORATORIO NACIONAL
Certlfioo qne desda el 1 de Septlemlsre del a&o
1943 el eenor Hans Henmann, Ingealero Qulmlco,
esta prestando servioios en el La'boratorio Haolo^
nal, come Tec nice en la Seccidn de Qulmica General
y Bromatologla,
illo
rector del Latoratorio i^acienal.
Ciudad Trujillo, ^4 de Bnero de 1947*
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0la^xtel ^eonulciA
^rcäCcl€7i(e de ^a. ^e/it!£/tca, Q^oini,
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Stv viyfu<{ cle /cti atr-i^ticiottei f>tc ctm^ivre <-l uj'/icu/o Jj.9 c/r /<i
^«n^O'lucid’H del S^fficto. Ae i^iiMteUo -notnAratt u
Auiiliar TScnico del Laboratorio Nacional,
c/lcävo el dla de tom de ^osesidn.
SUe no^nlra^nieitto, ^la'^a, loS ^7ieS le^alei, ^cT’Ct Tte^idyaclo C7i la
S/ecreCarla de Si£cidc< de la lyT-esideTtcia, e7t la de Sanidad y As^len-
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9 — dtai del TTtei Ye septieiibra de
3 1944.
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Of iciaJJiayor— de— iü"^ecret5ria de SA>cr«/<ir^ je <^Adio
E.de Sanidad jr^Asistencia Publica.
^ ^ ^ ^ ^
GENERAÜSIMO RAFAEL L TRUJILLO MOLINA
BENEFACTOR DE LA PATRIA. '
OFICINA PARTICULAR
On nn o ^ n 1 T T ^
Distrito de Santo Domingo,
17 de mayo 'de 1943.
Senor
Hans Newmann,
Ciudad.
Muy sefior mio:
Con la presente tengo el gusto de remitir-
le el cheque No.l79,librado a su favor por la suma de
|l28.00 (Ciento Veintiocho pesos 00/100}, para cubrir
los gastos en que incurrid usted en relacidn con los
andlisis de tierra para el establecimiento de un te-
jar.
Ruegole avisar recibo de esta remesa.
H
hmv
EIDGENÖSSISCHES
JUSTIZ- UNO POLIZEIDEPARTEMENT
POLIZEIABTEILUNG
ARBEITSLAGER FÜR EMIGRANTEN
. Sp,
Rcf. Nr
Bitic In der Antwort an0«b«n
Zürich, den 30,Ä^ai 1940
Eidg. Teclm. Hochschule, 41a,
Tel. 2 69 77.
ZL 630
M ^ .kA W W AA ^ W ^ W ^ A« •
Herrn
^ans Neumann ,
Emigrant enlager ,
Gir enbad/Hinwil •
Auf Grund der Emen von der Polizeiahtieilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizei-
departementes zügegangenen Einweisving in ein Arbeitslac^er für Emigranten haben Sie t
Freitag, den 31 «Mal 1940,14*00 Ubr
/W^f¥ /
Herrn Er .W« Amstad ,j Hlnwil
zur sLrztlichen Uctersuchving zu stellen. Sollten Sie aus iCranidieitsgründen zu dieser
■■ Untersuchung nicht erscheinen können, bo haben Sie vorner ein ärztliches Zeugnis an
die unter zeicimete Zentrallei tvtng einausenden. ^
■
Falls Sie tauglidi befunden werden, so reisan Sie am
nach dem arbeitslager für Emi
ab. Die Verfügimg über die Einweisung in ein Arbeitslager durch das Eidg. Justiz- ttnc
Polizeidepartement, sowie dieses Aufgebot haben Sie bis z\jm Eintritt ins Lager avif s:
zu tragen und dort der Lcgerleitvmg abzvtgeben.
Persönliche Ausrüstung: Ausgangskleidea>- vtnd Schuhe, Arbeitskleider (vmter den Uebej
kleidem zu tragen: Hose & Pullover), Leibwäsche, Handtüchei
V/aschlappen, für je drei Wochen, Zahnpasta, Zahnbürste, Seij
Rasierzeug, Hausschidae, event, Wetterschutz.
Jiahnbille t : Vorweis\mg des beiliegenden Ausweises erhalten Sie das notwendige
jT Bahnbille t.
ARHElTSLiiGER EUER EhLIGRANTI
^ Der Chef der Zentral leitvonf
^ i //^// z
(Otto Zaugg)
Ruth Deutsch - Lechuga
Ruth Deutsch wurde im Februar 1920 in Wien geboren. Da sie so kurz nach dem
Ersten Weltkrieg das Licht der Welt erblickte, war ihre frühe Kindheit und Jugend
von Knappheit und Entbehrungen geprägt. Sie gewöhnte sich daran, nicht alles
haben zu müssen, wonach das Herz verlangte und was einem jungen Menschen
damals vorschwebte. Sogar In späteren Jahren, selbst bis heute, hat Ruth Deutsch
den Mangel der frühen Jahre nicht vergessen und geht sorgsam mit allen Dingen
des Lebens um, bis hin zu den Lebensmitteln.
Ihr Vater, Arnold Deutsch, war von der Gesinnung ein Linker, obwohl er kein
Kommunist war. Er war Kaufmann und schätzte die schönen Künste. Arnold
Deutsch war bereits in Wien geboren. Seine Mutter kam aus Mislitz, in der
Tschechoslowakei, wo auch noch einige ihrer Verwandten lebten. Die Zeit der
Sozialdemokraten unter Dollfuss und Schuschnigg hat Ruth noch in guter
Erinnerung, besonders dadurch, dass Dollfuss' Leben am 25.7.1934 jäh mit seiner
Ermordung endete:
Engelbert Dollfuss wurde am 4.10.1892 geboren und starb am 25.7.1934 eines
gewaltsamen Todes, er wurde erschossen. 1931 wurde er Minister für Land- und
Fortstwirtschaft, 1932-1934 Bundeskanzler und Außenminister. Im März 1933
schaltete Dollfuss das Parlament aus, verbot 1933 die NSDAP, die
Kommunistische Partei und den Republikanischen Schutzbund. Nach den
Februarkämpfen 1934 verbot er auch die Sozialdemokratische Partei und ließ als
einzigen politischen Willensträger die Vaterländische Front zu. Er regierte mit
Notverordnungen und führte das Standrecht und die Todesstrafe wegen des
national-sozialistischen Terrors ein. Mit der Maiverfassung schuf er 1934 einen
autoritären Ständesstaat und stützte sich vor allem auf die Katholische Kirche, die
Heimwehr und die Bauern. Im Jahre 1934 schloss er mit dem Heiligen Stuhl ein
Konkordat und räumte durch die “Römischen Protokolle" mit Italien und Ungarn
Mussolini bedingten Einfluss auf die österreichische Innen- und- Außenpolitik ein.
Er wurde beim national sozialistischen Juliputsch ermordet, nachdem schon im
Oktober 1 933 ein Attentat auf ihn verübt worden war.
Februarkämpfe 1934
Am 12. Februar 1934, um punkt 6.30 in der Frühe, begann das Feuer des
Schutzbundes, das gegen den Willen der Parteiführung eröffnet wurde. Die
Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Republikanischer Schutzbund, (der
1933 verboten wurde) einerseits und den Christlich-Sozialen und Heimwehr bzw.
der Regierung andererseits, (Erste Republik) führten in jenen Februartagen 1934
zum Bürgerkrieg. (12. - 15. Februar) Innerhalb von drei Tagen schlugen Militär,
Polizei, Gendarmerie und Heimwehrverbände den Aufstand nieder. Zentren des
mit Artillerieeinsatz niedergekämpften Widerstands in Wien waren Arbeiterhelme
und Gemeindebauten (Karl Marx Hof, Goethe-, Sandleiten, Reumannhof u.a.). Die
1
unorganisierte Aufstandsbewegung scheiterte hauptsächlich daran, dass der von
der Sozialdemokratischen Partei ausgerufene Generalstreik nicht durchgeführt
wurde. Am 15. Februar brach der Widerstand zusammen. Die Februarkämpfe
kosteten nach offiziellen Angaben über 400 Menschen das Leben, knapp tausend
wurden verwundet.
Die Wohnung der Familie Deutsch lag in der Nähe des Gemeindehauses, von dort
hallten die Schüsse des Aufstandes zu der damals 14 jährigen Ruth herüber, so
dass sie auch heute noch bei jedem lauten Gräusch aufschreckt, denn Ihr sitzt die
Angst vor Gewalt immer noch in den Gliedern.
Die Familie
Ihr Vater klärte sie bereits früh über Politik auf und brachte ihr bei, dass eine
Sozialdemokratische Regierungsform die einzig humane und elnigermassen
gerechte sei. Arnold Deutsch war nicht religiös, er wollte eigentlich überhaupt
nichts von Religion wissen, während Ruth s Grosseltern mütterlicherseits, die
Familie Reis, die jüdischen Feiertage einhielten. Nicht nur die politische Gesinnung
des Vaters war für Ruth ein Leben lang Vorbild, sondern auch seine ausgeglichene
liebenswürdige Art und sein Verständnis für jeden. Die Mutter, Angela Deutsch
geborene Reis, war eine warmherzige, hilfsbereite und gutmütige Frau, die
niemandem etwas abschlagen konnte. Die Großmutter mütterlicherseits, eine
gebürtige Polin, starb bereits vor dem Krieg in Wien. Ruth erinnert sich noch heute
an ihren polnischen Akzent und wie sie sich in jungen Jahren dessen geschämt
hatte. Heute, sagt sie, spricht sie selbst keine Sprache akzentfrei, rede sie
Englisch, hört man Ihre deutsche Betonung heraus und wenn sie Spanisch redet,
merken die Leute auch, dass sie keine Einheimische ist.
Schulzeit
Ruth wuchs mit Ihrem vier Jahre jüngeren Bruder, Hans, in Wien auf, und die
Eltern taten alles erdenkliche, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu
ermöglichen. Ruth besuchte in Wien das Realgymnasium: sie und eine
Klassenkameradin waren die einzigen jüdischen Schüler an der ganzen Schule.
Mit ihrer einzigen Vertrauten verband Ruth eine herzliche Freundschaft. Die beiden
Mädchen besuchten sich gegenseitig zu Hause und verbrachten ihre Freizeit
miteinander, während sie zu den anderen Mitschülern In den 8 Jahren ihrer
Schulzeit privat überhaupt keinen Kontakt hatten. Ruth wusste, dass die Wiener
sehr zurückhaltend und verschlossen fremdartigem gegenüber sind, deshalb
wunderte sie sich nicht, dass sie 8 Jahre lang mit jungen Wienern die Schulbank
geteilt hatte und sie nicht einmal in einen Wiener Haushalt eingeiaden wurde.
Worüber sie sich aber sehr wunderte war, dass die unzugänglichen und
zugeknöpften Wiener den deutschen Truppen einen kolossalen Empfang
bereiteten und plötzlich in Verzückung und Massenhysterie ausbrachen, als Hitler
ihnen sein “Hell” bringen wollte. Zigtausender -sonst so distanzierter Wiener-
jubelten, schrieen, tanzten und winkten euphorisch den neuen Helden der NSDAP
2
zu. Was Ruth weiter noch sehr beeindruckte, war der Einmarsch der deutschen
Truppen auf dem Wiener Heldenplatz. Wie sie im Gleich- und Stechschritt -mit
versteinerten Mienen wie Roboter, gefühlskalte Maschinen oder aufgezogene
Marionetten- überexakt marschierten und sich so dem Regime untenvarfen. Sie
empfand es irgendwie unmenschlich, entwürdigend, dass diese Menschen sich der
Drillübung, die eher an eine Dressur bei Tieren erinnerte, mit so viel Virtuosität und
Bravour hingaben.
ABSCHIED
Gegen all das, was sie als junges Mädchen erlebte, war sie erzogen worden und
mit ihren 18 Jahren war ihr bereits klar, dass sie in so einem Land nicht leben
könne. Sie wusste auch, wenn sie einmal weggeht, wird es kein Zurück mehr für
sie geben. Nach der “Kristallnacht” ist der Familie klar, dass sie Wien so schnell
wie möglich verlassen müssen und sie bemühen sich ins Ausland zu kommen.
Zunächst versuchten sie nach Holland auszuwandern, da angeblich dort eine
gewisse Toleranz gegenüber Juden herrschte. Aber sie wurden nicht
aufgenommen, nur der damals 15jährige Hans konnte, da er Minderjährig war,
ungefähr 6 Wochen in Holland bleiben. Dann holte ihn die Familie wieder ab, da ihr
Schiff Anfang 1939 den Hafen von Vlissingen verliess, das sie über Amerika nach
Mexiko bringen sollte. Es war ein recht altes und klappriges Schiff, das wohl seine
letzte Reise mit den Exilanten angetreten hatte. Der Weg führte zunächst über
New York, wo sie in Ellis Island eine Nacht blieben. Ruth wunderte sich über die
neue Freiheit, denn sie fühlte sich hier in Ellis Island eingezwängt und
eingekerkert. Ein Cousin des Vaters, der ihn New York lebte, holte sie aber sehr
bald dort heraus. Und hier in Ellis Island -praktisch ein Gefängnis, mit Blick auf die
Freiheitsstatue- feierte Ruth ihren 19. Geburtstag.
ZWISCHENSTATION IN ELLIS ISLAND
Es war nie die Absicht der Familie Deutsch in Nordamerika zu bleiben, da sie
sowieso ihr Visum für Mexiko hatten, denn in Mexiko lebten bereits
Familienangehörige, die sich für ihre Verwandtschaft verbürgt hatte. Die
tschechische Großmutter, die Mutter von Arnold Deutsch, kam später nach
Mexico. Alle Geschwister, väterlicher- wie mütterlicherseits konnten sich nach
Mexiko retten. Die entfernte VenArandtschaft, die in Europa geblieben war, blieb für
immer verschollen.
ANKUNFT IN MEXIKO
Ende Februar 1939 kamen die Eltern Deutsch mit ihren beiden Kindern in Mexiko
City an. Natürlich dauerte es einige Zeit bis sie sich eingelebt und die Sprache
einigermassen erlernt hatten. Ihre erste Wohnung bezog die Familie in der Calle
Amsterdam, Ecke Yucatan. Bevor sie endgültig 1956 in die Calle Pachuca zogen,
lebten sie noch eine Weile in der Artikula 123.
Sie alle genossen das ganz andere Leben, das herrliche Klima, das Anderssein
der Menschen. Die sonntäglichen Spaziergänge im Alameda-Park, wo an Sonn-
und-Feiertagen die Musikkappelle gratis spielte. Sie wurden vertraut mit dem
bislang ungewohnten Geruch und Geschmack der frischgebackenen Maistortillas,
3
die sie an allen Ecken der Stadt kaufen konnten. Damals gab es noch keinen
chaotischen Strassenverkehr und die Luft war noch sauber und kristallklar. Mexiko
City hatte durch seine Höhe (2.240 m ü. M.) ein sehr gutes und gesundes Klima.
Es war ein regelrechter Luftkurort. In der näheren Umgebung gab (und gibt es
noch) bedeutende Heilquellen. Die Badeorte -in der Nähe der Hauptstadt- wurden
damals schon von Heilsuchenden stark frequentiert und sind heute noch beliebte
und bekannte Besucherziele.
ERKUNDUNG DES LANDES
Vater, Arnold Deutsch, konnte hier in Mexiko mit Begeisterung seinem Hobby
nachgehen, der Archäologie. Am Wochenende nahm er seine Familie mit zu den
entlegendsten Plätzen. Manchmal machte er die Wochenendentdeckungsfahrten
mit Ruth alleine. Laut Ruth gibt es keinen alten Stein, keine prähispanische Mauer
oder Ausgrabung, die sie nicht besucht hat. Vater Deutsch hatte sich schon in
frühen Jahren in Wien mit ägyptischer und griechischer Kunst und Kultur befasst
und nun hatte er herrliche Vergleichmöglichkeiten. Ruth's Vater starb 1991 mit 96
Jahren in Mexiko City, er war in jeder Beziehung ihr grosses Vorbild gewesen.
DAS MEDIZINSTUDIUM
Ruth Deutsch war gerade 19 Jahre alt, als sie mexikanischen Boden betrat. Sie
hatte noch rechtzeitig in Wien ihr Abitur gemacht, aber durch die neuen Gesetze
der Nazis in den 30er Jahren, wäre sie sowieso für ein Studium nicht zugelassen
worden, da sie jüdischen Glaubens - und auch noch eine Frau war. Sie sagte:
“Auch wenn kein Hitler gekommen wäre, hatte es einen “Numerus Clausus”
gegeben, wobei ich weder als Frau und schon gar nicht als Jüdin eine Chance
gehabt hätte zu studieren”. An Mexiko schätzte Ruth sehr, dass jeder Einwanderer,
der das Dokument FM3 (Aufenthaltsgenehmigung) erhält, die Freiheit hat, zu tun
was ihm gefällt. Und so hatte sie die Möglichkeit Medizin zu studieren. Ausserdem
hat Ruth in Mexiko eine Demokratie gespürt, die sie in ihrem Heimatland
schmerzlich vermisste. Bereits während ihres Studiums arbeitete Ruth im Labor
des alten “Hospital Americano” in der Strasse Gabino Barreda, wo sie auch nach
dem Studium blieb. Als dieses geschlossen wurde, arbeitete sie weiter für ihren
Chef, einem Herrn Pilz, der zusammen mit seiner Frau ein eigenes medizinisches
Laboratorium eröffnete. Als Herr Pilz starb, übernahm Ruth die Leitung des
medizinischen Instituts und überwies der Witwe jeden Monat eine Rente aus dem
Erlös des Unternehmens. Später eröffnete Ruth ihr eigenes Labor -In der Calle
Reforma- und arbeitete in der Hauptsache für die Amerikanische Botschaft. Sie
untersuchte das Blut der Emigranten, die nach Amerika auswandern wollten, auf
Irgendwelche Viren oder Krankheiten, damit sie keine ansteckenden Seuchen Ins
Land schleppten. Als dieser Zweig der amerikanischen Botschaft nach Ciudad
Juarez verlegt wurde, gab sie Ihrem Leben eine Wende und widmete sich von nun
an einer ganz anderen Tätigkeit.
Im Jahre 1951 hatte Ruth Deutsch den Röntgenarzt, Carlos Lechuga, geheiratet,
den sie bereits während Ihres Studiums kennengelernt hatte. Gemeinsam mit
4
ihrem Mann und ihrem Vater hat sie viele Entdeckungsreisen durch Mexiko
gemacht. Ruth übertrug auf Carlos Lechuga -schon bei den ersten gemeinsamen
Streifzügen- ihrer Begeisterung für die Natur, die alten Kulturen und die Liebe zu
den Indios, und er liess sich mit Leichtigkeit von ihrem Enthusiasmus anstecken.
HOBBY WIRD ZUM BERUF
Schon während ihrer ersten Erkundungsreisen durch Mexico hatte Ruth kleine
handgearbeitete Objekte erworben, die damals nur wenige Groschen kosteten. Mit
der Zeit entstand eine stattliche Sammlung an kunsthandwerklichen
Gegenständen. Und so machte Ruth Deutsch Lechuga Anfang der 70er Jahre ihr
Hobby zu ihrem Beruf und arbeitete zunächst als Berater- und Einkäuferin für “Arts
and Crafts” bei FONART, dem “Fondo Nacional para el fomento de las
Artesanias”, d. h. dem staatlichen Institut für Volkskunst.
Die Arbeit unter dem Mikroskop hat ihr aber mindestens genauso viel Spannung,
Begeisterung und Faszination beschert, wie die Beschäftigung mit der
mexikanischen Kunst, denn in beiden Berufen gab es immer etwas Neues zu
entdecken. Danach arbeitete Ruth Lechuga Deutsch 17 Jahre lang im “Museo de
Artes e Industrias Populäres” (Museum für Volkskunst), zusammen mit Teresa
Pomar. Für Ruth war dies eine neue Herausforderung, da sie es vor allem auch
hier wieder mit Menschen zu tun hatte. Es waren Indios, mit denen sie auf den
Dörfern und entlegenen Plätzen verhandelte, um Museumsstücke zu erwerben. Da
Ruth sich sowieso mehr für Menschen als für Steine interessierte, kam ihr dieser
Wechsel sehr gelegen. Mit Teresa Pomar organisierte sie Wettbewerbe und
Ausstellungen, die sie auch dreimal nach Europa führten, wo Mexiko an einem
internationalen Kulturaustausch teilnahm.
EUROPAREISEN
Die erste Ausstellung fand in einem kleinen Dorf in der Toscana statt, wobei sie
später noch einige Tage in Venedig blieb. Anfang der 90er Jahre verbrachte Ruth
kurze Zeit in Andalusien, wo sie mit einem Katalog von Rafael Coronel unterwegs
war. Sie besuchte Eiche, Barcelona und Madrid.
Ebenfalls in den 80er Jahren flog Ruth Deutsch Lechuga als Abgesandte des
“World Craft Council” zu einem 2 wöchigen Kongress nach Wien. Dies war nach
vielen, vielen Jahren die erste und letzte Begegnung mit ihrer Heimatstadt. Sie ist
immer noch fasziniert von dieser schönen Stadt, und sie meinte, wenn man ein
Dach über Wien ausbreitet, hat man ein gigantisches Museum. Jedoch mit der
Mentalität der Menschen kam sie auch dieses Mal nicht zurecht. Den Charakter
eines MenschenschlagesA/olkes verändert man nicht, auch nicht nach vielen
Jahren, meint sie. Ruth war mit ihrem Vater und der Stiefmutter nach Wien gereist,
dort hatte sie sich -wie auch in Mexiko- etwas folkloristisch gekleidete. Als Ruth
eines Tages in der Stadt unterwegs war und mit ihrer Stiefmutter Spanisch redete,
kommentierten Passanten lauthals und ohne Hemmungen ihre wohl für Wiener
Verhältnisse unangebrachte Kleidung: “Was bildet die Alte sich denn ein, so
herumzulaufen - und was sie überhaupt für eine komische Sprache spricht...” Da
5
wusste Ruth, dass sich nichts am Kleinbürgertum der Wiener geändert hatte. Dies
war ein Grund mehr, ihrer Heimatstadt für immer den Rücken zu kehren.
AUFKEIMENDES HEIMWEH?
Trotz allem überkommen Ruth manchmal Erinnerungen, Sehnsüchte und Gelüste.
Dann steigen ihr im Geiste die herrlichen Düfte von Germknödel oder
Griebenschmalz in die Nase und sie denkt dann an die vielen verschiedenen
Kuchensorten oder an die früheren Heurigen-Besuche. Diese Versuchungen löscht
sie aber sogleich aus ihrem Gedächtnis, indem sie sich sagt, wie kalorienreich und
ungesund diese Lebensmittel für sie doch sind.
MUSEUM LECHUGA
Seit 1956 bewohnt die Familie Deutsch bereits die Wohnung im Künstlerviertei, in
der Calle Pachuca, in der Colonia Condesa. Zunächst bewohnte eine Tante, die
Schwester ihres Vaters eine Wohnung im 2. Stock des Gebäudes, zu ihr gesellte
sich später die mit ausgewanderte Grossmutter. Dann zogen die Deutsch 's zu viert
in die Nebenwohnung der selben Etage.
Die Altbauwohnungen In der Calle Pachuca sind grosszügig angelegt und
lichtdurchflutet. Jedoch blieb Ruth am Anfang nur ein Zimmer, indem sie ihre
erworbenen Schätze, ihre mit Leidenschaft gesammelten Kunstwerke aufbewahren
konnte. Kisten und Kartons stapelten sich unter ihrem Bett, diese verhinderten,
dass sich Türen weit öffnen Hessen, sie verstopften Ecken und freie Plätze. Erst als
ihr Bruder Hans eine eigene Wohnung bezog, (später zog er mit seiner
amerikanischen Frau in die USA, wo er eine gute Arbeitsstelle gefunden hatte)
konnte sie sich in seinen Räumen ausbreiten, aber auch das reichte für Ihre vielen
Kostbarkeiten nicht aus. In dieser Wohnung lebte Ruth 's Mutter, bis sie 1961
starb.
Als Grossmutter und Tante in der angrenzenden Nebenwohnung gestorben waren,
erwarb Ruth dieses Apartment und mit einem Durchbruch vergrösserte sie ihre
Ausstellungsräume, die heute wiederum nicht für ihre reichhaltigen Sammlungen
ausreichen. Jetzt, im Jahre 2000 ist sie dabei eine dritte Wohnung zu kaufen,
damit alle ihre Ausstellungsstücke besser zur Geltung kommen.
Sie Ist nicht nur eine Spezialistin für Masken aus allen mexikanischen Regionen,
die an Lebendigkeit und Formenreichtum kaum zu übertreffen sind. Ruth kauft und
sammelt auch Textilien aller Art, die aus Naturfasern hergestellt -und mit der
mannigfaltigsten Farbpalette- mit Stickmotiven versehen sind. Auf den Märkten
kleiner Dörfer erwirbt sie Tonkrüge und Töpfe in grosser Vielförmigkeit, und
manche von ihnen haben bereits als Haushaltsgegenstände der Dorfbewohner
gedient. Körbe grob oder fein geflochten, in allen Variationen zieren ihre Wände
und Regale. Sie sammelt naive, handgemachte Krippenfiguren, die aus den
verschiedensten Materialien, wie Holz, Ton oder Marzipan hergestellt wurden, die
in den verwegendsten Farben und mit künstlerischsten Mustern und Motiven
verziert sind. Das Land bietet eine Fülle von traditionellen Dingen, die nur bei
Festlichkeiten verwendet werden und die seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle
6
bei den Ritualen spielen. Es kommt Ruth nicht darauf an, irgendein -für den Laden
gefertigtes- Stück zu erstehen, es muss mit den Menschen und ihrer Tradition in
Verbindung gestanden haben. Die Masken oder Textilien müssen die Haut berührt,
den Schweiss, Tränen, Freude oder Leid des Trägers gekostet haben. Ruth
Deutsch Lechuga beherbergt in ihrem privaten Museum
ca. 1 .200 Masken
über 2.000Textilien
Mit den Zinnfiguren, den Körben, Töpfen, Krügen, Spielzeug, filigrane
Schnitzereien aus Knochen, der Schar von kunstvollen Kämmen mit Tiermotiven,
Lackarbeiten und religiösen Gegenständen , besitzt Ruth Lechuga mehr als 10.000
Ausstellungsstücke.
An Fotos und Negativen besitzt sie mehr als 20.000.
Ruth Lechuga hat für die Vergrösserung ihres Museums -mit dem 3. Apartment-
einen einmaligen Zuschuss vom FONCA, “Fondo Nacional para la Cultura y las
Artes” (staatliche Förderung für Kunst und Kultur) erhalten. Ebenfalls bekam sie
eine kleine Beihilfe von Banken und Archäologen. Aus Österreich bezieht Ruth
eine geringfügige Rente. Ansonsten ist sie auf Eintrittsgelder der Besucher durch
ihre “Schatzkammern” angewiesen. Durch ihre Sammlung häuft Ruth keine
grossen Reichtümer an, sondern hütet den Nachlass zahlreicher Ethnien Mexikos,
die heute immerhin noch 56 Sprachen sprechen.
Ruth Deutsch Lechuga ist trotz ihrer 80 Jahre noch eine sehr aktive, rege und
bewundernswerte Frau. Auch wenn sich mit den Jahren einige Altersgebrechen in
ihr Leben schleichen, so führt sie trotzdem ihre Arbeit weiter und hat noch viele
Pläne.
Sie schreibt weiterhin Bücher, über Mexiko s Wurzeln, über Masken und ihre
Herkunft und erklärt ihre Bedeutung und kennt ihre Hintergründe. Im Moment
arbeitet sie an einem Buch in englischer Sprache für die Universität in Oklahoma.
RUTH DIE POLITIKERIN
Mexiko ist für Ruth Deutsch Lechuga zur Heimat geworden. Sie ist mit ihren 80
Jahren immer noch dabei für dieses Land zu kämpfen und Sorge zu tragen, dass
es sich eines Tages doch zum Besseren und Gerechteren verändert. Und deshalb
ist sie -trotz ihres Alters und ihrer zarten körperlichen Konstitution- noch politisch
für die Partei “ PRD”, und Cuauhtömoc Cardenas' tätig. Dann bricht der
sozialdemokratische Geist ihres Vaters durch, der sie seit ihrer Kindheit geprägt
hat - und den sie bis heute beibehalten hat.
Ruth Lechuga legt grossen Wert darauf zu betonen, dass sie selbst, ihre Familie,
so wie viele andere Exilanten, ihr neues und hoffnungsvolles Leben dem
damaligen Präsidenten von Mexiko, Läzaro Cardenas, zu verdanken haben.
7
Deshalb unterstützt sie auch heute noch als aktives Mitglied die politische Partei
PRD, dessen Parieivorsitz heute sein Sohn, Cuauhtemoc Cardenas, führt.
(Nachdem ich an einem Frühjahrstag im Jahre 2000 den Nachmittag mit Ruth
Lechuga verbracht hatte, war der Abend einer Versammlung mit der Partei und mit
dem Parteivorsitzenden, Cuauhtemoc Cardenas, gewidmet. Auf meine Frage, ob
sie mit dem Taxi zur PRD- Veranstaltung fahre, anwortete sie mir, dass sie auf
kurzen Strecken immer noch selbst mit ihrem alten VW-Käfer fährt, was mir wegen
ihrer schlechten körperlichen Verfassung allerdings ein wenig riskant vorkam).
So wie der damalige Präsident von Mexiko, Lazaro Cardenas, in den 40er Jahren
jüdischen Verfolgten die Einreise und Aufenthaltsbewilligung nach Mexiko erteilte,
hat auch Gilberto Bosques , der zu jener Zeit als mexikanischer Botschafter in
Marseiile tätig war, viele Menschenleben gerettet. Auch er handelte aus fester
innerer Überzugung und erteilte den hilfesuchenden, heimatlos gewordenen
Menschen, die überlebenswichtigen Einreisepapiere. Im Januar 1939 trat Gilberto
Bosques in den diplomatischen Dienst, zunächst als Generalkonsul in Paris. Durch
seine Initiative rettete er tausende von Spaniern und etlichen Hundert Deutschen
und Österreichern das Leben. Später stellte er den Hilfesuchenden in der
mexikanischen Vertretung in Marseille ihre Visa aus. In der Zeit von 1930 bis 1942
hat er seiner Schätzung nach um die sechstausend Menschenleben gerettet.
Spezialisten aber gehen davon aus, dass es rund Zehntausend waren.
Abschliessend bemerkte Ruth Lechuga noch; “Wären seinerzeit noch andere
Länder, wie z. B. die grossen, reichen USA dem Beispiel Mexikos gefolgt, hätten
wesentlich mehr Menschenleben gerettet werden können. Aber die USA haben gar
nicht daran gedacht, die Einwanderer-Quote hinaufzusetzen, obwohl sie Anfang
der 40er Jahre schon wissen mussten, dass die Juden in Europa keine Zukunft
mehr hatten.”
Zitate aus “ARTES DE MEXICO”, einer Zeitschrift, die sich auf mexikanische
Kunst und Besonderheiten spezialisiert hat. Mit der Ausgabe Nr. 42, “ARTE
POPULAR”, hat man Ruth Lechuga ein ganzes Heft gewidmet:
Und so schreiben sie über Ruth Lechugas Museum:
“Nicht nur die dekorativen handgearbeiteten Elemente überfluten die
Räumlichkeiten, auch die einfachen Dinge des täglichen Gebrauchs werden hier
ausgestellt und dem Besucher präsentiert.”
“Die Kunst Mexikos in seinem Reichtum zeigt uns, dass das Land viel grösser ist
als seine Probleme”.
8
“Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Ruth auf ihren Reisen in den hintersten
Winkeln Mexikos nach Objekten geforscht, gesucht und gefunden, denen sie dann
nicht widerstehen konnte, die sie heute in ihrer Wohnung ausstellt”.
“Wer könnte, nachdem er diese magische Stätte durchdrungen hat, die tiefe
Ergriffenheit, Bezauberung, die Passion, Erregt- und Entrücktheit ignorieren, die
hunderte von Masken an den Wänden der hohen Räume verursachen?
Wer kann sich der Verzückung entziehen, die vielen Textilien zu bewundern, die
Ruth Lechuga in ihren grossen Schränken aufbewahrt, die Miniaturen und die
Keramik, die man in den diversen Vitrinen -die förmlich überquellen- bestaunen
kann? Wer könnte Je die Mannigfaltigkeit der Totenmasken vergessen, die aus
Draht, Papier, Zucker oder Ton gefertigt im Schlafzimmer dominieren, dessen
Wände in einem lebendigen, kräftigen, mexikanischen Rosarot gehalten sind”?
Ruth selbst schrieb:
„Ich habe die Dörfer und Gemeinden nicht deshalb besucht um irgendetwas zu
kaufen, sondern um zu wissen, wie und weswegen diese Dinge hergestellt wurden.
Es war mir immer wichtig, die Sprache der Künstler und Hersteller zu verstehen.
An die Frauen heranzutreten, Kontakt mit ihnen zu haben. Dies ermöglichte mir,
über ihre Kultur und ihre Art zu leben zu erfahren und alles was sich rundherum
abspielt. Auf einmal öffnet sich ein großer Horizont auf die Objekte, die man
plötzlich zu sammeln wünscht. Es gibt immer eine geschichtliche Vergangenheit
um meine Objekte und das ist das Geheimnis meiner Sammlung“.
“Meine Kollektion, die ich zeige, ist dazu da, die verschiedendsten Wurzeln des
Landes Mexiko s zu präsentieren und so können die Menschen das Abenteuer
erleben, ihr eigenes Land kennenzulernen, das ist doch schon viel wert, also habe
ich nicht umsonst gelebt”!
DER TOD RUTH LECHUGAS
Geschwächt von Altersgebrechen starb Ruth Deutsch Lechuga am 20. September
2004 im Alter von 84 Jahren in ihrer Wohnung. Noch im Juli 04 hatte ich mit ihr
telefoniert, ihre Stimme klang schwach. Als ich anrief, wurde sie von zwei
Betreuerinnen versorgt. Gerne hätte ich ihre Sammlung, die nun in drei
Wohnungen verteilt war und die ich noch nicht kannte, gesehen. Ruth wird mich
am Telefon auch nicht mehr erkannt haben, obwohl ich Deutsch mit ihr sprach. Es
blieb bei diesem kurzen letzten Gespräch. Heute tut es mir leid, dass ich sie nicht
einfach mit einem kleinen Blumenstrauß unangemeldet besucht habe.
9
Ich erinner© mich noch an ihr© Wort©, di© si© b©im B©g©h©n ihr©s rosa
Schlafzimm©rs sprach, das üb©r und üb©r mit Tot©nmask©n und Sk©l©tt©n
bestückt war, was mir reichlich makaber vorkam: „Eines Tages, wenn ich tot in
meinem Bett liege, werde ich selbst Teil dieser Totensammlung sein“.
Ein Teil ihrer Kollektion der mexikanischen Volkskunst wird nun dem Franz Meier-
Museum überlassen. Ihre einzigartige Privatsammlung der Volkskunst - „Arte
Popular“- wurde in eine Stiftung umgewandelt. Die mehr als 20.000 Negative
gehen an die Spezial-Zeitschrift ,Artes de Mexico“. Die Anfänge dieser Fotos von
Ruth Deutsch Lechuga stammen aus dem Jahre 1948.
Wenige Tage vor ihrem Tod besuchte der Politiker Cuauhtemoc Cardenas Ruth an
ihrem Krankenbett. Trotz ihrer schweren Krankheit vergaß sie für wenige Momente
ihre Schmerzen. Sie freute sich über den Besuch des vertrauten Menschen,
dessen Vater ihr und ihrer Familie das Leben gerettet hatte. Sie lag zwischen den
gesammelten Totenmaskem und lächelte ihrem alten Freund entgegen.
Copyright: Ingrid Decker
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Das Schlafzimmer mit ihrem Bett inmitten von l’otenmasken
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Martha Winkler
Mexikanische Landschaft,
Gemälde von Martha Winkler
MARTHA WINKLER UND DIE ÜBERSETZUNG
Martha Winkler, geborene Schwarz, lernte ich in Mexiko kennen. Man hatte sie mir
als Übersetzerin empfohlen. So suchte ich sie eines Nachmittags in ihrer
Wohnung auf
Sie empfing mich einem blauen Auge und einer verbundenen Hand, ansonsten
jedoch recht lebhaft und munter, gar nicht beeinträchtigt von ihrem Sturz am
Vortag in ihrer eigenen Wohnung. Wir verbrachten einen interessanten und
kurzweiligen Nachmittag und plauderten aus unserem Leben.
Martha Winkler war von Haus aus Ärtzin, und ebenso Laborärztin wie Ruth
Lechuga, die sich beiden kannten und schätzten. Bei der Gelegenheit erfuhr ich,
dass sie Natalia Trotzky kannte, die ja noch viele Jahre nach dem Tod ihres
Mannes in Coyoacan lebte, bevor sie nach Paris ging und dort verstarb. Wenn sich
Natalia krank und elend fühlte, nahm Martha Winkler ihr das Blut bei ihr zu Hause
ab, um es im Labor zu untersuchen.
Frau Winkler Ist eine vielseitige und belesene Frau und eine begeisterte und
begabte Hobbymalerin genau wie ihr Ehemann, Janusch = Hans, der vor wenigen
Jahren an Lungenkrebs starb. Sie Ist zwar immer noch an vielen Dingen
interessiert, geht jetzt aber mehr In der Familie auf, erfreut sich an ihren Kindern
und Enkeln und ist vor allem mit ihrer Gesundheit beschäftigt, denn eine
Verletzung am Oberarm macht ihr zusätzlich noch zu schaffen.
Martha Winkler stammt aus einer liberalen jüdischen Familie. Sie wurde 1918 in
Ungarn geboren, kam aber bereits 1923 mit Ihren Eltern nach Mexiko. Der Vater,
Imre Winkler bekam 1923 eine Anstellung als Architekt In Mexiko und wanderte mit
seiner Frau Veruschka = Barbara, der 5jährigen Tochter Martha und dem 3jährigen
Sohn JyrI = Georg aus. Die Kinder besuchten die Deutsche Schule In Mexiko-
Stadt, die sich damals noch in der Colonia Roma befand. Beide Kinder hatten das
Handycap, dass sie kein Deutsch sprachen, denn zu Hause wurde nur Ungarisch
geredet. Aber der Vater bestand darauf, dass sie die Deutsche Schule besuchten.
Man gab den Kindern eine Frist von drei Monaten, in dieser Zeit sollten sie sich
einigermaßen verständigen können. Da beide Kinder sehr sprachbegabt waren,
lernten sie zügig und durften weiterhin an der Schule bleiben. Beide Kinder
bestanden an der Deutschen Schule das Abitur.
Als die Familie 1937 gemeinsam einen Urlaub In Ungarn verbrachte, wollte Martha
In ihrem Geburtsland bleiben und dort Textll-Design studieren. Sie fühlte sich bei
den Großeltern und den übrigen VenA/andten sehr wohl und Martha verliebte sich
sogar in einen netten jungen Mann. Jedoch die Zeiten wurden immer unruhiger
und Freunde aus Mexiko schickten immer eindringlichere Briefe, die Familie möge
doch zurückkommen, da der Krieg vor der Tür stehe. Im September 1937 trat die
Familie die Rückreise an. Vorher kaufte der Vater noch ein Auto, das er mit nach
Mexiko nehmen wollte. Da man zu jener Zelt noch mit dem Schiff unterwegs war,
war der Transport kein Problem. Aber auf dem Weg zu ihrem Abfahrtshafen
1
gerieten sie auf Glatteis und der Wagen prallte gegen einen Baum. Das Auto war
ziemlich beschädigt, aber außer ein paar Platzwunden kamen die Insassen mit
einem Schrecken davon. Von den Verwandten, die den Krieg über in Ungarn
geblieben waren, blieb niemand am Leben.
Martha, die vielseitig interessiert und begabt war, folgte dem Rat ihres Vaters,
Medizin zu studieren. Später hatte sie ein eigenes Blut-Analyse-Labor.
Martha erinnert sich an ihre Kindheit und, dass ihr Vater ein großer Tierfreund war.
Sie lebten in einem Haus mit Garten in der Colonia Roma und hatten das Haus voll
mit den verschiedensten Tierarten. Der Vater hatte im Garten sogar einen
Fischteich angelegt, und da der Garten recht groß war, wurden von Freunden und
Bekannten immer mehr Tiere bei ihnen abgeliefert. Eines Tages kam ein
Waschbär zu ihnen ins Haus, und der Vater baute eigens einen Käfig für dieses
wollige Geschöpf. Es war ein sehr nettes und geselliges Tier, nur fischte es ihnen
ständig den Fischteich leer, denn er war so geschickt und in der Lage, das Schloss
seines Käfigs zu öffnen. Leider nahm es ein tragisches Ende mit dem putzigen
Waschbär, denn als er eines Tages aggressiv wurde, stellte der Veterinär fest,
dass das Tier einen Gehirntumor hatte und getötet werden musste. Es gesellten
sich aber noch mehr Lebewesen in diesen tierfreundlichen Haushalt. Da gab es
zum Beispiel Gürteltiere, die mit ihrem spitzen Maul und dem gepanzerten Körper
ein wenig unförmig aussehen. Martha fand, dass diese Tiere eher langweilige
Zeitgenossen sind, die sich nur von Würmern ernähren und ansonsten nicht viel
machen. Dann gab es in diesem Haus noch eine Anzahl von Leguanen, von denen
einer die stattliche Länge von 1 .40m erreichte.
Nachdem Ich so nett mit Martha geplaudert hatte, rief ich in der folgenden Woche
an, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Als ich hörte, dass sie beim Sturz
das rechte Handgelenk gebrochen hatte, wollte Ich meine Übersetzungsunterlagen
wieder abholen. Aber dann erzählte sie mir, dass sie am Wochenende
handschriftlich die ganze Übersetzung geschafft habe, und sie nur noch von ihrer
Tochter auf dem Computer ins Reine übertragen werden müsse. Genau nach einer
Woche hatte ich den ganzen Text vor mir liegen.
Kurze Zeit später, als die Hand verheilt war, wurde Martha Winkler an ihrem
Oberarm operiert. Sie blieb eine Weile im Krankenhaus, ist nun aber wieder
vergnügt und lebensfroh auf den Beinen.
In einer relativ kurzen Zeit habe ich etliche, über 80jährige, interessante, gut
aussehende und aktive Frauen erlebt, an denen man sich als junger Mensch ein
Beispiel nehmen sollte. Ich bewundere und verehre sie alle.
2
GERTRUDS bILLEk
GEBORENE
BORAK
DAS SCHICKSAL DER GERTRUDE BILLER GEB. BORAK
Gertrude Borak wurde im September 1918 in einem kleinen Dorf -an der Grenze
zwischen Ungarn und Österreich- in Monson, als einziges Kind des Ehepaares
Bernhard und Emma Borak geboren. Als sie 5 Jahre alt war, zogen die Eltern nach
Wien, wo sie aufwuchs und die Schule besuchte. Ihr Vater starb bereits im Alter
von 50 Jahren in Wien. Die Mutter Emma führte nun alleine in Wien die Konditorei
weiter, die in der Schröttergasse 14, im 10. Bezirk- lag und die sie mit ihrem Mann
aufgebaut hatte.
Gertrude besuchte die Oberschule, im Jahre 1937 machte sie ihr Abitur. Da bereits
die Nazis in Österreich die Oberhand gewonnen hatten und neue Gesetze
erlassen wurden, war es für sie als Jüdin unmöglich zu studieren. Die neuen
Machthaber erschwerten den Juden das Leben in jeder Beziehung, so dass auch
die Geschäftsfrau, Emma Borak nach der “Kristallnacht” enteignet wurde.
Da stand nun die kleine Familie und wusste nicht wohin... Mutter Emma fühlte sich
mit 60 Jahren zu alt, um wieder in einem fremden Land, deren Sprache und
Mentalität sie nicht kannte, einen Neuanfang zu machen. Sie wollte lieber zurück
nach Ungarn in ihre Heimat, wo einige ihrer Geschwister lebten. Nur ihre Tochter
sollte auf jeden Fall aus den Fängen der Nazis gerettet werden, sie war noch jung
und flexible.
Der Gedanke, Wien so plötzlich verlassen zu müssen, war für die 20 jährige
erschreckend. Denn nicht nur die Trennung von ihrer Mutter war für Gertrude sehr
schmerzhaft, sondern sie wollte auch ihre Jugendliebe nicht im Stich lassen. Wie
sie später in Erfahrung bringen konnte, wurde der junge Mann kurz nach ihrer
Abreise nach Sibirien in ein Arbeitslager verschleppt und blieb verschollen.
Zweimal hatte er noch versucht brieflich Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Wahrscheinlich hat er den erbarmungslosen russischen im Winter, die harte
Zwangsarbeit und die extremen Klimabedingungen im Sommer nicht überlebt.
Da Emma Borak Verwandte in New York hatte, wäre sie mit ihrer Tochter dorthin
ausgewandert. Da aber der vor geraumer Zeit gestellte Ausreiseantrag nicht
genehmigt worden war, drängte die Zeit zur Selbsthilfe, besonders, da der Krieg
bereits in vollem Gange war. Während Gertrude Borak die Vorbereitungen für den
Umzug nach Belgien traf, löste die Mutter den Hausstand in Wien auf und machte
sich mit wenigen persönlichen Habseligkeiten auf den Weg in ihre Heimat, nach
Ungarn. Mutter und Tochter trennten sich schweren Herzens voneinander, ahnten
jedoch nicht, dass sie sich nicht wieder sehen würden.
Mit zwei Tanten und zwei männlichen Ven«/andten versuchte Gertrude im Herbst
1939 ins rettende Ausland, nach Belgien, zu entkommen. Die kleine Gruppe
machte sich auf den Weg zur belgischen Grenze, aber bereits in Aachen wurden
sie abgewiesen, man ließ sie nicht passieren. Nun versuchten sie, über die “Grüne
Grenze” in die Schweiz zu gelangen und dafür warteten sie den kurz
bevorstehenden Heiligenabend ab. Sie dachten, dass die Zöllner dann feiern und
1
trinken würden und so die illegalen Grenzgänger nicht bemerkten. Tatsächlich
gelangten sie bei Basel über die Grenze und konnten endlich, nach langem
Herumirren bei eisiger Kälte, in einem kleinen Hotel Unterschlupf finden. Bereits
am nächsten Morgen durchsuchte die Schweizer Polizei das Hotel und verlangten
von den Gästen die Ausweispapiere. Irgendjemand der Dorfbewohner muss die
kleine Hilfesuchende Gruppe angezeigt haben. Da Gertrude Borak erst zwanzig
Jahre alt war, noch minderjährig, konnte sie nicht zurückgeschickt werden.
Gertrude hatte sich nun regelmäßig bei der Schweizer-Kultusgemeinde zu melden
und konnte bei einer Familie als „Kinderfräulein“ Unterkommen. Sie hatte Glück,
sie fand eine sehr nette und verständnisvolle Familie, die sich auch um ihr
persönliches Wohlergehen kümmerte. Da die Familie, bei der sie arbeitete, gute
Beziehungen zu den Behörden hatte, wurden Gertrudes Papiere so manipuliert,
dass sie auch zukünftig in der Schweiz hätte bleiben können. Aber Gertrude hielt
es nur ein Jahr lang in diesem kleinen Land aus. Sie fuhr nach Bern, um sich dort
bei der französischen Botschaft eine Einreisegenehmigung für Frankreich zu
beschaffen. Um dies zu forcieren, gab sie an, sie sei von Beruf Krankenschwester
und da Krieg war, würde sicher jede helfende Hand gebraucht. So kam Gertrude
Borak 1941 als “Refugie” nach Paris, wo sie sich gleich einer ungarischen
Exilantengruppe anschloss.
Zu jener Zeit lebten zahlreiche Ungarn in Paris und so lernte sie recht bald ihren
zukünftigen Mann, Otto Biller, kennen, der sich beschützend um die 13 Jahre
jüngere Frau kümmerte. Otto Biller hatte bereits Jahre zuvor in Paris studiert, ihm
war Frankreich zur zweiten Heimat geworden. Bald schon wurde er als Soldat
eingezogen und kämpfte gegen die Deutschen. Die jungen Leute heirateten noch
während des Krieges. Da sie die furchtbaren Kriegsjahre, Not, Flucht und
Verfolgung miterlebt hatten, beschlossen sie keine Kinder zu bekommen. Sie
wollten ihren zukünftigen Kindern so ein qualvolles Leben, wie ihre Angehörigen es
mitgemacht hatten, um dann zum Schluss doch noch in den verschiedensten
Konzentrationslagern zu sterben, ersparen. Alle Verwandten der Billers und
Boraks, die in Ungarn oder Österreich geblieben waren, wurden ermordet.
Nach dem Krieg lebte das Ehepaar einige Jahre in Perpignon, wo sie erfolgreich
eine Gerberei betrieben, Leder bearbeiteten und Taschen herstellten. Es gab zwar
moderne Maschinen in ihrem Unternehmen, aber zusätzlich bedurfte es der
geschickten Handarbeit bis jeweils ein Stück fertig gestellt war.
Zehn Jahre waren es nun her, dass gute Freunde, die schon lange In Mexiko
lebten, das Ehepaar Biller zur Einwanderung in dieses Land bewegen wollten. Sie
glaubten, dass Billers mit ihrem Ledergeschäft grossen Erfolg haben und sich in
Mexiko sehr wohl fühlen würden. Otto Biller konnte sich zum Auswandern nicht
recht entschließen, Frankreich war ihm in all den Jahren sehr ans Herz
gewachsen. Dann, 1959, war es doch soweit, Herr Biller gab dem Drängen der
Freunde nach. Möbel, Hausrat, und die von ihnen benötigten Maschinen wurden in
Container verstaut und das Ehepaar selbst versuchte sich innerlich auf ein neues
Leben vorzubereiten. Ironischerweise kam am Tag ihrer Abreise die
2
Ausreisegenehmigung für die Vereinigten Staaten, auf die sie während der
Kriegsjahre so sehnlich gewartet hatten. Frau Biller war später der Meinung, dass
die ungarischen Asylantenbewerber ganz hinten auf den amerikanischen Listen
standen.
Die alten Freunde der Billers halfen ihnen sehr bei den Anfangsschwierigkeiten in
Mexiko. Ein neues Ledergeschäft wurde aufgebaut. Aber die Einarbeitung
gestaltete sich nicht so einfach, denn es gab zu Beginn Sprachschwierigkeiten, die
sich erst im Laufe der Zeit legten. Der Umzug ins neue, fremde Land schien Billers
Privatleben beflügelt und entspannt zu haben, denn schon bald wurde Gertrude
Biller schwanger. Im Jahre 1960 wurde ihr einziger Sohn, Daniel, geboren. 1983
starb Otto Biller an Herzversagen und Gertrude führte seit dem mit ihrem Sohn das
Geschäft weiter.
Otto Biller ist in der Fremde nie heimisch geworden, ihn plagte oft großes
Heimweh, häufig sprach er mit seiner Frau über eine Rückkehr nach Frankreich.
Aber ein neuer Anfang war in ihrem Alter zu beschwerlich. Mehrmals sind die
Billers im Laufe der Jahre auf Europareise gegangen und haben bei dieser
Gelegenheit ihre alte Heimat -Ungarn und die Tschechoslowakei- besucht. Ihre
Unterhaltung führten sie meistens auf Ungarisch -Ihrer beider Muttersprache- und
auf Französisch.
Mit der Unterstützung ihrer Freunde war es den Billers gelungen, die Lederfabrik
nicht nur aufzubauen, sondern sie zum Erfolg zu führen. Renommierte Kaufhäuser
zählten zu ihren Kunden. Selbst heute noch (im Jahr 2000), mit fast 82 Jahren, ist
Gertrude eine immer noch tatkräftige Frau. Sie lässt es sich nicht nehmen, jeden
Tag im Geschäft nach dem Rechten zu sehen, auch wenn ihr Sohn Daniel schon
lange die Geschäftsleitung übernommen hat.
Über ihre Zeit in Wien, „den Anschluss“ die “Kristallnacht”, den Einzug der
Wehrmacht, die Schikanen der Nazis, die Enteignung des Geschäftes ihrer Mutter
spricht Frau Biller nicht. Diese Ereignisse sind aus Ihrem Kopf gewichen, als hätte
es all diese Dinge nie gegeben. Sie sagte, es sei zu schrecklich gewesen, als dass
man sich daran zurückerinnert und sich mit diesen Gedanken belastet.
Mexiko ist für Gertrude Biller zur neuen Heimat geworden. Im Gegensatz zu ihrem
Mann, hat sie dieses Land innerlich akzeptiert. Frau Biller lebt heute -wie eigentlich
schon immer- sehr zurückgezogen. Die guten alten Freunde, die sie und ihren
Mann einst nach Mexiko holten, sind längst verstorben. Gertrude war seit frühester
Jugend selbständig, aber manchmal fühlt sie sich einsam. Und so erfreut sich die
alte Dame heute an ihren kleinen Nucleus, die Familie, die aus Sohn, Enkel und
Schwiegertochter besteht. Nebenher beschert Ihr das Geschäft noch die kleinen
Freuden und Sorgen des Alltags. Dann ist da noch eine alte ungarische Freundin,
Marta Jovanowich, die sie hin und wieder im wärmeren Cuautia besucht. Gertrude
Biller lässt es sich nicht nehmen, wenigsten einmal am Tag mit ihr zu telefonieren
und das in ihrer Muttersprache -auf Ungarisch- natürlich.
3
Am 12.7.2002 verstarb Gertrude Biller, geb. Borak in Mexiko. Ihr Sohn Daniel
befand sich in dieser Zeit gerade auf einer Europa-Reise. Als er sie am letzten Tag
seines Aufenthaltes anrief, kam ihm die Stimme seiner Mutter sehr schwach und
hinfällig vor. Am Tag seiner Rückkehr ist sie gestorben — ganz einfach
eingeschlafen Sie wurde 84 Jahre alt.
W
Co-pY ■
I
Mitzi Kafka
MARIE (MITZI) KAFKA
Durch meine Freundin, Renate von Hanffstengel, erhielt ich eine Tonbandaufnahme,
auf der ein Interview mit Mitzi Kafka aufgezeichnet war, das von einem
österreichischen Radiosender in den 80er Jahren aufgenommen worden war.. Hierin
berichtet sie von ihrer Flucht aus Wien und ihrem Leben im mexikanischen Exil. Frau
Dr. von Hanffstengel und ich arbeiteten das Gespräch schriftlich aus. Es befinden
sich ebenfalls in diesem Artikel Daten, die wir Mitzis Tochter, Susi Kafka, verwitwete
Rosenbaum, und ihrem Sohn Michael zu verdanken haben.
Marie Steinschneider war 32 Jahre alt, als die Nazis in Wien einmarschierten. Sie
erinnerte sich noch genau, dass sie auf dem Nachhauseweg von ihrem Unterricht als
Gymnastiklehrerin war, als deutsche Truppen nach Wien kamen. Sie bemerkte auf
dem Nachhauseweg einen ungeheuren Lärm und große Bewegung auf den
Strassen. Erst als sie Zuhause angekommen war, erfuhr sie aus dem Radio, was
passiert war.
Bis zu diesem Zeitpunkt führte sie eine Parfümerie in der Börsendorfer Strasse.
Als dann die Nazis auch an ihr Geschäft Plakate klebten mit der Aufschrift, dass den
,Ariem“ das Einkäufen In diesem Geschäft untersagt sei, musste sie Ihren Laden
schließen. Im selben Jahr, im Dezember 1938, heiratete Marie ihren Verlobten Hans
Kafka und konnte mit ihm über Kuba nach Mexiko auswandern. Hans war ein Cousin
des Schriftstellers Franz Kafka.
Ein Bruder von Mitzi, Hans Steinschneider, war zu diesem Zeitpunkt noch In Wien,
nachdem er durch die Aussicht auf ein Visum für Kuba aus dem KZ Dachau
entlassen worden war. Mitzi und ihr Mann erlangten tatsächlich ein Visum für ihn, das
jedoch kurzfristig von der kubanischen Regierung rückgängig gemacht wurde. Dieses
Schicksal sollte zur gleichen Zeit noch zahlreichen anderen Menschen ereilen.
Daraufhin floh Hans Steinschneider mit seinem Halbbruder Robert Deman über die
Berge in die Schweiz, dort wurden sie jedoch erneut zurückgewiesen. Im November
1939 stellte die jüdische Kultusgemeinde von Wien unter dem Befehl der Gestapo
einen Transport nach Russland zusammen, der Hunderte von Wienern, unter ihnen
die beiden Brüder von Mitzi Kafka, unter falschen Vorspielungen nach Osteuropa
brachte. Es begann eine Odyssee, von der sie unter schwierigsten Bedingungen
noch einige Briefe schreiben konnten, die in Mexiko anlangten. Mitzi hat sie
aufbewahrt. Nach Erhalt des letzten Briefes hörte sie nie wieder von ihren Brüdern.
Gewiss fanden sie den Tod im Niemandsland irgendwo Im Osten Europas, nach dem
sie angefeindet, ihrer letzten Habseligkeiten beraubt und beschossen wurden.
Die Mutter Mitzi Kafkas, Emma Schönmann, blieb zunächst In ihrer Wohnung In
Wien, doch schon bald musste sie diese verlassen. Als Mitzi sich nach dem Krieg bei
den Behörden nach dem Verbleib ihrer Mutter erkundigte, erhielt sie nur die lapidare
Mitteilung, dass sie nach Minsk transportiert und dort umgekommen sei.
Mitzi Kafka konnte nur mit ihrem Mann nach Mexiko gelangen, weil die begüterten
Verwandten ihres Mannes ihnen die Einreise verschafften. Dort versuchte das
Ehepaar, sich mit verschiedenen Beschäftigungen über Wasser zu halten, was in der
ersten Zelt nicht gelang. Da ihnen bei ihrer Einreise die Bedingung gestellt wurde in
Mexiko zu investieren, versuchten sie es am Anfang mit einer Eisfabrik in Manzanillo,
aber der Versuch scheiterte. Dann eröffneten sie In der Hauptstadt ein
1
Taschengeschäft und waren nebenbei auch noch Partner eines Deutschen, der ein
Haushaltswaren-Geschäft besaß.
Im Jahre 1940 kam die Tochter Susanne zur Welt, und 1943 Sohn Michael. Beide
besuchten die amerikanisch ausgerichtete Schule „Pan-American Workshop“ in
Mexiko-Stadt. Ganz langsam ging es finanziell bergauf, und Familie Kafka konnte ein
„normales Leben“ führen, in Urlaub fahren und sich einige Sonderausgaben
erlauben. 1972 trat Hans Kafka In den Ruhestand, den er noch zwei Jahre bis zu
seinem Tod genießen konnte. Seine Ersparnisse für den Ruhestand wurden durch
eine rasante Inflation stark geschmälert.
Nach dem Tode ihres Mannes bekam Mitzi von der Pensionsversicherung in
Österreich eine gute Rente, die ihr ein Leben ohne Sorgen erlaubte.
Auf die Frage, ob sie je wieder in Wien oder Österreich leben wolle, kam eine klare
Absage.
Sie meinte, es sei eine Charaktersache. Ein Land, das ihr die Freiheit genommen,
die Mutter und die Brüder umgebracht hat, sei für sie zum Leben nicht mehr
akzeptabel. Sie habe zwar ihre jüdischen Freunde dort nach dem Krieg noch zwei
oder dreimal besucht, aber sie hat sich nie mehr Wohl in ihrer Haut gefühlt. Gerade
bei ihrem letzten Besuch konnte sie das Gefühl von Antisemitismus nicht loswerden
und war froh, zu ihrer Familie nach Mexiko zurückzukehren. Ihre Familie bestand zu
der Zelt aus ihren Kindern Miguel und Susi, sechs Enkeln und vier Urenkeln.
Mitzi wurde fast 92 Jahre alt und bewohnte bis zu ihrem Tod eine eigene Wohnung
mit Blick auf den Chapultepec-Park und nahm manches Mal an den Veranstaltungen
des „Centro Austriaco“ teil, aber mit großer Regelmäßigkeit fand sie sich zu
Gymnastikstunden im „Club Deportivo Israelite“ ein.
Copyright: Ingrid Decker
NACHRUF AUF
MARIANNE FRENK-WESTHEIM
Marianne Frenk-Westheim in Mexiko, Im Mai 2002
Foto: Renata von Hanffstengel
Nachruf auf Marianne Frenk-Westheim
Marianne Frenk-Westheim, geborene Freund, eine alte gescheite Dame, die am
24.6.04, mit einhundert sechs Jahren im mexikanischen Exil starb.
Sie wurde als Marianne Freund 1898 in Hamburg geboren. Sie heiratete den Arzt Dr.
Ernst Frenk und 1930 kamen sie gemeinsam mit ihren beiden Kindern nach Mexiko,
wo sich Dr. Frenk ein neues Betätigungsfeld suchte. Marianne arbeitete als Dozentin
an der Mexikanischen Universität, UNAM, und lehrte Philosophie und Literatur. Sie
veröffentlichte verschiedene Arbeiten in Mexiko, sowie auch in Deutschland. Später
wurde sie Assistentin und Rechte Hand des legendären Francisco Gamboa, der
Direktor des Museums für Moderne Kunst war. Über viele Jahre übersetzte sie
Bücher vom Deutschen ins Spanische und umgekehrt. Noch mit 94 Jahren schrieb
sie ein kleines Büchlein mit dem Titel „y mil aventuras“, übersetzt „Und tausend
Abenteuer“. Unter der Naziherrschaft, als viele Verfolgte Deutschland verließen und
in Mexiko aufgenommen wurden, lernte Marianne etliche Künstler aus der Heimat
kennen, unter Ihnen waren Anna Seghers und Egon Erwin Kisch. Auch der
bedeutende Kunsthistoriker und Kunstkritiker, Paul Westhelm, stieß zur deutschen
Gruppe. Bei einem Vortrag im Heinrich Heine Club lernte er 1942 Marianne Frenk
kennen. Sie interessierte sich für seine Arbeiten und wurde seine Übersetzerin.
Diese, über viele Jahre fruchtbare und kontinuierliche Zusammenarbeit band die
beiden Menschen so eng aneinander, dass sie 1959 heirateten. Ernst Frenk war im
Jahre 1957 an einem Herzinfarkt gestorben.
Paul Westheim wurde am 7. August 1886 in Eschwege geboren. Er ging als
15jähriger nach Darmstadt, wo er nach dem Willen seines Vaters eine
kaufmännische Lehre absolvieren sollte. Jedoch schon nach zwei Jahren arbeitete er
als Journalist für eine Presseagentur. Seine Lehre beschrieb er später als etwas
„was er nie begriffen hat: nämlich Geschäfte - und mit Geschäften Geld zu machen“.
Die Kunst wurde für Paul Westhelm immer wichtiger. Im Jahre 1906 ging er mit
vierzig geliehenen Mark nach Berlin, wo er sich als Gasthörer In der Universität
weiterbildete. 1912 übernahm er das Berliner Kunstreferat der Frankfurter Zeitung,
eine der größten Zeitungen in dieser Zeit. Westhelm setzte sich für Künstler wie
Oskar Kokoschka, Max Pechstein, Otto Dix, Georg Grosz ein, die bei den
konsen/ativen Kunstkritikern auf Ablehnung stießen. 1919 erschienen seine
Monographien über den Bildhauer Wilhelm Lehmbruck und den Maler Oskar
Kokoschka. Mit den Nationalsozialisten im Jahre 1933 wird die Arbeit des
anerkannten Kunstkritikers öffentlich angeprangert. Im August 1933 geht Westheim
nach Paris, flieht regelrecht aus seinem Heimatland. Im Juni 1935 wird er von den
Nazis -gemeinsam mit Bertold Brecht und 34 weiteren „staatsfeindlichen
Emigranten“- ausgebürgert mit der Begründung: „Paul Westheim, jüdischer
Journalist, befasst sich besonders damit, in der Emigrantenszene an der deutschen
Kulturpolitik In herabwürdigender- und zersetzender Weise Kritik zu üben“. Im Exil in
Frankreich schrieb er den satirischen Roman „Heil Kaddlatz“ und die Novelle
„Rassenschande“.
1941 stellte ihm das mexikanische Konsulat in Marseiile (genau genommen der
Generalkonsul Gilberto Bosques) ein Einreisevisum aus und im Dezember desselben
Jahres kam er als fünfundfünfzigjähriger über Spanien und Portugal nach Mexiko. In
den ersten Jahren nahm er regen Anteil an den kulturellen Aktivitäten der Exll-
1
Deutschen. Er hielt Vorträge im Heinrich Heine Club und fehlte nicht bei den
Clubabenden der Bewegung „Freies Deutschland“. In den Präkolumbischen-
Kulturen, ebenso wie in den Wandmalereien sah Westheim eine, wie er sagte
„andere Art von Expressionismus“. Westheim meinte, die alten Kulturen schufen
keine Abbilder sondern Sinnbilder. Eine Kunst also, die auf Wirklichkeit, auf
Erfahrung bezogen und damit Weltdeutung und Welterklärung zugleich war. „Der
mythische Realismus dieser Kunst soll und will mystisch religiösen Vorstellungen
Ausdruck geben, Vorstellungen von einer Welt, die schrecklich und erhaben zugleich
ist“. 1950 schreibt Paul Westheim ein Buch über die mexikanische Kunst unter dem
Titel: ,Arte antiguo de Mexico“ und es folgten Im Laufe der Jahre noch mehrere
Publikationen und Marianne Frenk war von Anfang an seine Übersetzerin.
Während es viele Exilanten nach dem Krieg wieder nach Deutschland zog, blieb Paul
Westhelm in Mexiko, um seine begonnene Arbeit fortzusetzen. Er wurde nach dem
Krieg weder von der DDR noch von der BRD wieder eingebürgert. Der bis dahin
staatenlose Westheim erhielt 1954 die mexikanische Staatsbürgerschaft. Niemals
mehr wurde ihm im deutschen Kunst und Kulturbetrieb eine Stelle angeboten,
obwohl er das Kulturgeschehen vor dem Dritten Reich nachhaltig mitbestimmt hatte.
Er schrieb in einem Brief. „Leider lebe ich ja verbannt auf einer Insel, fern von jener
Welt da drüben, zu der ich einmal gehörte... Andererseits hat mir das Schicksal doch
die Welt des alten Mexiko geboten, die für mich ein großes Erlebnis geworden ist“.
Im Herbst 1963 kam der 77jährlge auf Einladung des Berliner Senats und der „Ford
Foundation“ nach Berlin zurück. Westheim hatte lange Zeit behauptet, dass Berlin
die einzige Stadt sei, in der man leben könne. Auf die Frag eines Journalisten, wie
lange er nicht in Berlin gewesen sei, antwortete Westheim lakonisch und mit seinem
ganz eigenen Humor: „Nicht lange - dreißig Jahre“. Die Anstrengungen der Reise,
den aufkommenden Emotionen, die mit diesem Berlinbesuch verbunden waren,
ließen sein Herz am 21. Dezember 1963 still stehen.
Über vierzig Jahre überlebte Marianne Frenk Westheim ihren Mann. Als ich am
25.6.04 zufällig zu Besuch bei meiner Freundin, Renate von Hanffstengel, in Mexiko
weilte, die Frau Westheim gut und lange Jahre kannte, läutete das Telefon und eine
Verwandte teilte ihr mit, dass Marianne Frenk Westheim am Tag zuvor, am 24.6.04 ,
wenige Tage nach ihrem 106. Geburtstag verstorben sei.
24. November 1997 wurde Marianne Frenk-Westheim eine große Hommage
zuteil. Im Museum Rufino Tamayo fand ein Konzert zu ihren Ehren statt und ein
großes Dinner. Dazu wurde ein reich bebildertes Heftchen über sie und Ihre lange
Laufbahn gedruckt, in dem ihre schriftstellerische, aber insbesondere ihre
Übersetzertätigkeit gewürdigt wurde, die einen kulturellen Brückenschlag zwischen
der mexikanischen und der deutschen Kultur bedeutet“.
(Text aus dem Jahrbuch III, Volumen V, von Dr. Renate von Hanffstengel)
Marianne Frenk Westhelm erklärte einmal, dass sie kein Identifizierungsprobleme
habe. Sie fühle sich weder als Mexikanerin, noch als Deutsche und nicht als Jüdin,
sondern als eine Frau unter dem Himmel dieser Erde. Und so hatte sie wohl schon
zu Lebzelten bestimmt, dass sie weder auf dem deutschen noch auf dem
mexikanischen oder jüdischen Friedhof beerdigt werden wolle. Ihre sterblichen
Überreste fanden auf dem spanischen Friedhof eine Heimat.
2
Kurzgeschichte von Marianne Frenk Westheim
Ein Mangel an Takt
„Jedes Mal, wenn ich mit dem Kakerlaken kämpfe, kommt das Pferd. Ein absoluter
Mangel an Takt, was immer man sagen mag. Außerdem, können Sie mir vielleicht
erklären, was es bei mir will? Mein Zimmer ist für so ein Pferd keineswegs attraktiv,
an den Wänden hängen kaum Bilder, und meine Bücher - also ich will mich wirklich
nicht wichtig machen, aber es ist nun mal Tatsache, dass meine Bücher ein ganz
anderes geistiges Niveau voraussetzen. Wir beide wissen nicht, wovon wir sprechen
sollen. Das Unangenehmste ist, dass der Kakerlak die Gelegenheit benutzt, um zu
entwischen. Manchmal ist er schon tot, wenn das Pferd kommt, aber das macht ihm
gar nichts aus. Am nächsten Tag ist er wieder da“.
Ein Gedicht von Paul Mayer in der Zeitschrift „Freies Deutschland“
Dank an Mexiko
Fremdes Land, wo nichts mir angehört.
Weder Haus noch Baum mit Vogelnest.
Land, dem ich wie Strandgut angeschwemmt.
Fremdes Land, das mich gewähren lässt.
Wo kein Büttel meine Träume stört
Und kein Wahn den Strom des Denkens dämmt.
Fremdes Land, Du hast mich schon betört.
Weil die Sonne Deine Seele ist
Und Dein Himmel keine Wolke kennt.
Weil Du noch ein kühner Anfang bist.
Jugendlich in stürmendem Beginn.
Fremdes Volk, so fass ich Deinen Sinn
Keine Schranke hat uns je getrennt.
Deine Besten - und dem Fremden, mich.
Mexiko, Du warst mir brüderlich.
Weil in uns die gleiche Sehnsucht brennt.
Für das Land, das wahllos mich verstieß.
Tauschte ich Dich ein. Du Paradies.
Fremdes Land, das mir schon ganz gehört.
Denn „Gehören“ heißt doch, dass man liebt-
Jeder Mensch erhält nur, was er gibt.
Fremde Stadt, wo Oleander rankt.
Wo ein Blütenmeer im Wind zerstiebt,
Stadt und Land und Volk, seid mir bedankt!
3
(Ein Großteil der Informationen dieses Berichtes stammen aus dem Buch „Mexiko,
das wohltemperierte Exil“ von Renata von Hanffstengel, Cecilia Tercero und Silke
Werner Franco)
luuuuuuuuuuuuuuuuuuuMuuuuuuuuuimuuauuuuuuummiiiyiuiiuiuiuiHiuuuiiuuiiuuHMuuMuut
Die Malerin Tanya und das Kochbuch aus Theresienstadt
Die Malerin Tanya lernte ich gleich am Anfang meines fünfjährigen Aufenthaltes 1996
in Mexiko bei einer Vernissage kennen. Sie ist eine vielseitige und interessante Frau,
jedoch der Kunst des Malens am meisten zugetan und damit ist sie sehr erfolgreich.
Dadurch, dass wir räumlich zu weit voneinander entfernt lebten, sahen wir uns nicht
allzu häufig, jedoch oft genug, um etwas aus Ihrem Leben zu erfahren. Ihre Eltern
sind 1939 von Prag ins südamerikanische Exil gegangen.
Während ich Tanya in ihrem Atelier beim Malen zusah, ihren Geschichten lauschte,
hörte ich eines Tages von einem Buch, einem ganz speziellen Buch, es handelte
sich um ein „Kochbuch“, das in Theresienstadt entstanden war, deren Rezepte, in
Ermangelung an Schreibpapier, auf Papierschnipsel und Fotorändern geschrieben
waren..
Theresienstadt, „der Vorraum für Auschwitz“, hatte einen ganz besonderen Status.
Für manche war es eine Durchgangsstation, die nach Auschwitz führte, für andere
ein Todescamp und für viele für lange Zeit ein Ghetto. Dieses Ghetto Theresienstadt
hatte eine Modell- und Vorzelgefunktion. Hier wurde der Welt vorgeschwindelt, dass
die Juden geradezu In gutbürgerlicher Beschaulichkeit in Theresienstadt lebten.
Später entstand hier der Film: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Es war ein
Ort an dem die Nazis demonstrieren wollten, wie menschlich und ordentlich es in den
Konzentrationslagern zuging, aber leider handelte es sich nur um ein Potemkinsches
Dorf. In Wirklichkeit war dieser Ort von Angst, Krankheit und Tod geprägt. Die
Dualität zwischen dem -auf der einen Seite- kulturellen Leben, das von den
Häftlingen organisiert wurde und auf der anderen Seite die Vernichtung der
Menschen, gab dem Ghetto etwas Surrealistisches. Theresienstadt war eine Stadt,
die von festen Mauern umgeben war und deren Häuser aus Stein gebaut waren, im
Gegensatz zu anderen Lagern, deren Unterkünfte aus Holzbaracken bestanden.
Theresienstadt war als Garnisonsstadt unter der Regierung von Kaiser Franz Josef
II., im späten 18. Jahrhundert gegründet und nach seiner Mutter, der Kaiserin Maria
Theresia, benannt worden. Am 24. November 1941 errichtete Reinhard Heydrich,
SS-Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, in Theresienstadt ein Lager ein, in das
die Juden aus Prag gebracht wurden. Da dieser Platz nur 40 Km nördlich von Prag
entfernt lag, bot es sich den Nazis geradezu für ihre Zwecke an. Ab November 1941
wurde Theresienstadt zur Heimat für Prager Juden. 1942 waren fast alle Juden aus
Prag nach Theresienstadt deportiert worden. Als die Verfolgten aus Deutschland
eintrafen, erhöhte sich im Juli 1942 die Population auf 7.000 Menschen. Es folgten
dann die Juden aus Österreich. Im Ghetto bezeichneten sich die Wiener Juden selbst
als Wiener, und die Juden aus Berlin als Berliner. Während im Jahre 1942 für 7.000
Menschen genügend Platz vorhanden war, lebten ein Jahr später 53.004 von den
Nazis verfolgte und vertriebene Menschen zusammengepfercht in Theresienstadt. Im
Jahre 1942 starben hier 15.891 Menschen. Die Konditionen in dem Lager waren für
die Insassen unerträglich hart. Insgesamt wurden während der Kriegsjahre 144.000
Menschen nach Theresienstadt deportiert, 33.000 starben dort und 88.000 wurden
nach Auschwitz verschleppt. Bei Kriegsende hatten nur 19.000 Menschen das Lager
überlebt. 15.000 Kinder waren mit ihren Familien nach Theresienstadt gekommen,
bei Kriegsende, im Mai 1945, hatten nur noch einhundert von ihnen überlebt.
1
Theresienstadt war zwar kein Vernichtungslager, wo die Menschen -wie z. B. in
Auschwitz- mit Gas umgebracht wurden, aber das war auch nicht nötig, denn die
Menschen starben reihenweise an Unterernährung und ansteckenden Krankheiten.
Die Todesrate war so hoch, dass die Lagerleiter nicht wussten, was sie mit den
vielen Leichenbergen machen sollte. Aus diesem Grunde wurde eigens ein
Krematorium errichtet, in dem täglich 190 leblose Körper verbrannt wurden - das
machte im Jahr 69.000 Tote.
Viele berühmte Persönlichkeiten kamen nach Theresienstadt, wie der
Rabbiner Leo Baeck, der Kurse in Philosophie und Theologie gab. Hier trafen
sich berühmte Wissenschaftler, Diplomaten, Musiker, Professoren und Künstler.
An diesem mörderischen Platz wurden Konzerte aufgeführt,
Symphonien geschrieben und sogar eine Kinder-Oper komponiert, die
„Brundlbär“ hieß. Auch Theateraufführungen und literarische Vorlesungen
hielten den Geist der Kommune am leben. Die Pianistin, Alice Sommer,
geborene Herz, wurde im Sommer 1943 mit ihrem Mann Leopold und ihrem
Sohn Rafael nach Theresienstadt verschleppt. Sie war gerade vierzig Jahre alt,
als sie dorthin kam, wo andere Prager Juden sich längst aufhielten. Alice,
die im Lager von ihrem Mann getrennt wurde, wohnte zusammen mit ihrem
kleinen Sohn auf dem Dachboden eines Wohnblocks, in dem sie eine Mutter-
Kind-Matratze erhielt. Sie versuchte, auch wenn es unmöglich schien, ihrem Sohn
ein „normales“ Leben zu ermöglichen. Der aufgeweckte sechsjährige
Raphael übernahm die Rolle des Spatzes in der Kinderoper „Brundibär“ und er
sang im Kinderchor. Später wird Raphael sagen; „Inmitten der
„Hölle“ hat meine Mutter für mich einen Garten Eden geschaffen“.
Leopold Sommer, der im Männerhaus in Theresienstadt untergebracht war,
wurde am 9. Oktober 1944 mit ca. tausend anderen Männern abtransportiert.
Er starb ich Dachau an Flecktyphus. Während Alice Sommer heute noch lebt,
sie ist am 26. November 2003 einhundert Jahre alt geworden, starb
ihr Sohn, ein begnadeter Cellist, im Jahre 2001. In Ihrer Londoner Wohnung
erinnert sich die alte Dame, dass sie Theresienstadt nur durch die Musik
überlebt hat. Sie gab dort viele Konzerte, die meistens abends um 18 Uhr
im „Rathaussaar stattfanden. Im Winter spielte sie In dem ungeheizten Raum
und hüllte sich in einen dicken Mantel. Bei den eisigen Temperaturen trug sie
beim Klavierspiel Schal, Mütze und Handschuhe, deren Finderkuppen frei lagen.
Die teilweise schwer arbeitenden Häftlinge malten des Nachts das, was sie am Tage
erlebten und was sie bewegte, sie versteckten ihre Kunst hinter den Ghetto-Mauern.
Man versuchte hier ganz besonders die Kinder zu schützen, in dem man sie ablenkte
und ihnen ein „normales“ Leben ermöglichen wollte. Sie wurden unterrichtet, sie
malten Bilder, schrieben Gedichte und nahmen an Sportübungen teil. Trotz aller
Bemühungen konnten die Kinder nicht vor der Deportation nach Auschwitz geschützt
werden. Zum Beispiel wurden im August 1943 1.200 Kinder, die von Bialistok
gekommen waren nach Auschwitz geschickt. Sie verbrachten nur einen Monat im
Lager Theresienstadt.
Hunger war der permanente Begleiter der Lagerinsassen. Primo Levy sagte einmal,
wenn das Camp länger existiert hätte, hätte man ein neues Wort für die
unaussprechliche Realität erfinden müssen. Es war der ständig nagende Hunger, die
unendliche Müdigkeit, die ständige Angst, die schrecklichen Schmerzen, es waren
die langen harten -nicht enden wollenden Winter und viele Dinge mehr, mit denen
2
die Menschen zu kämpfen hatten. Um mit dem andauernden Hunger umzugehen,
war es für einige Menschen wichtig nur im Augenblick zu leben, nicht an gestern zu
denken, als die Töpfe noch gefüllt waren und nicht an morgen, wo man die
Möglichkeit hätte Lebensmittel zu erstehen. Um nicht verrückt zu werden dachten sie
nur von diesem einen Moment auf den anderen. Nicht aber jene Frauen, die in
Theresienstadt eine Sammlung von Kochrezepten erstellten. Das Aufschreiben von
Rezepten, frei aus dem Gedächtnis, war eine andere Art sich gegen das herrschende
Regime und gegen die gegebenen Konditionen zu wehren, es war sozusagen eine
spirituelle Revolte. Sie erzählten nicht nur Geschichten aus der Vergangenheit,
sondern dachten an die Zeiten, wo sie in ihrer Küche Töpfe und Pfannen um sich
geschart hatten und Gerichte für die Familie, speziell für die Kinder zubereiteten.
Dieses Durchspielen unrealistischer Tatsachen muss für die Frauen recht
schmerzhaft gewesen sein. Sich die Rezepte in Erinnerung zu rufen, war ein Akt von
großer Disziplin, was kaum dazu beitrug, den sich steigernden Hunger zu
unterdrücken. So entstand ein „Kochbuch“, das nicht für seine kulinarischen
Spezialitäten berühmt wurde, sondern einen Einblick über die außergewöhnliche
Kapazität auf eine Lebensstrategie gibt.
Fünfundzwanzig Jahre dauerte die Reise eines kleinen Päckchens, das in
Theresienstadt aufgegeben wurde und in Manhatten's East Side landete. Mina
Pächter hatte es für Ihre Tochter, Anna, bestimmt. Das kleine Paket enthielt ein Foto
von Mina mit ihrem Enkelsohn Peter, das noch aus Friedenszeiten stammte und ein
fragiles, von Hand gebundenes Kochbuch, deren recht zerknitterte Seiten die
verschiedensten Rezepte enthielten. Insgesamt wurden 80 Kochrezepte aufgeführt.
Einige waren Spezialitäten aus Zentraleuropa. Es enthielt u. A. die Rezepte von
„Billige Echte Jüdische Bobe“, oder „Gefüllte Eier“ von Mina Stern, oder „Badener
Karamel Bonbons“
Wenige Tage vor ihrem Tod in Theresienstadt, gab Mina Pächter das Paket an
Arthur Buxbaum, einem Freund, der es an ihre Tochter, die damals in Israel lebte,
weiterbefördern sollte. Das Paket irrte 25 Jahre um die Welt, bis es seinen
Adressaten erreichte. Buxbaum konnte zunächst den Wunsch der Verstorbenen nicht
erfüllen und behielt das Päckchen. Als ein Freund 1960 nach Israel reiste, und er ihm
den dicken Umschlag mitgeben wollte, erfuhr dieser, dass Minas Tochter nach
Amerika gezogen war. Niemand wusste genau, wo das Manuskript in der
Zwischenzeit abgeblieben war. Eine Dekade später tauchte es in Amerika auf und
erreichte Anny Stern, die ziemlich erschrocken war, 25 Jahre nach dem Tod ihrer
Mutter noch Post von Ihr zu bekommen.
Bianca Steiner, die heute in New York lebt. Ist eine Verwandte der Malerin Tanya
Kohn. Sie hat ebenfalls einige Zeit In Theresienstadt verbrachte. Bianca Steiner
übersetzte später das in Theresienstadt auf Deutsch und Tschechisch geschriebene
„Kochbuch“ ins Englische. Sie schrieb, um Theresienstadt zu überleben musste man
schon seine ganze Phantasie aufwenden. Und die Frauen stellten Gerichte aus dem
Gedächtnis her, manche Hausfrauen wurden böse, wenn das Rezept falsch
angegeben wurde. Es gab auch Diskussionen, ob ein Gericht mit diesen oder jenen
Zutaten angereichert wurde. Bianca Steiner nannte die imaginären Gerichte
„Coocking with the Mouth“. Natürlich war Papier eine Rarität im Lager. Da Not
bekanntlich erfinderisch macht, ist ein Teil der Rezepte auf der Rückseite von
Propaganda-Blättern geschrieben worden, auf dem auf der Vorderseite stand:
3
„Haltet das Reich gegen Tod und Vernichtung“ oder „ In Treue zum Führer“. Sogar
ein Hitlerbild wurde rundherum mit Rezepten beschrieben. Es entstanden vier
Kochbücher dieser Art. Es gab Rezepte für Vorspeisen, Nachtisch, Marmeladen,
Pudding, Fisch, Fleisch und Gemüse und spezielle jüdische Gerichte. Es fehlte
weder der Karlsbader Goulasch mit saurer Sahne und Sauerkraut noch die
karamellisierte Torten, Kartoffeln aus Serbien und Matze Brei mit Pflaumen. In einem
kleineren Kochbuch waren Sachertorte und Londoner Schnitten aufgeführt. Später
kreierten sie ein Gericht, das Kriegsmehlspeise genannt wurde, oder Kriegsdessert
und dann gab es einen Kuchen namens „Lass der Phantasie freien Lauf.
Mina Pächter, die das Kochbuch, ein Produkt aus Theresienstadt, schrieb, konnte
sich selbst nicht vor Unterernährung und Proteinmangel schützen. Am Tag von Vom
Kippur 1944 starb Mina im Ghetto-Lazarett.
Sie wurde am 16. Juli 1872 in Hluboka (Frauenberg), im Süden Böhmens, geboren
und war die sechste und jüngste Tochter von Heinrich Stein. Da Frauen damals nicht
an der Universität zugelassen waren, hatte sie trotzdem die Möglichkeit an einem
Prager Lehrerseminar Kunst und Literatur zu studieren. Um 1900 heiratete sie Adolf
Pächter. Adolf war Witwer, hatte sechs Kinder und war 27 Jahre älter als seine Frau.
1904 bekamen sie einen Sohn namens Hanoch - Heinz, drei Jahre später kam
Tochter Anna Wilma zur Welt. Mit den Kindern aus Adolfs ersten beiden Ehen,
manche waren erwachsen, andere noch jung, bildeten sie eine große Familie und
Mina wurde die Mutter aller. Im Jahre 1915 bekam Adolf eine Lungenentzündung
und starb. Er hinterließ seinen Kindern eine Fabrik und ausgedehnte Landgüter und
erwartete, dass sie sich um Mina kümmerten, sie taten es nicht. Niemand der Kinder
war in der Lage die Fabrik weiter zu führen und so kam sie in fremde Hände. Mina
konnte ihren Lebensunterhalt trotzdem selbst bestreiten. Ihre Tochter Anny heiratete
1930 den Rechtsanwalt Georg Stern und Mina konnte bei ihnen leben. Besondere
Freude machte ihr der Enkelsohn, Peter, der sich später in „David“ umbenannte. Im
März 1939 floh Georg Stein nach Palästina und Anny versuchte über jüdische
Organisationen mit ihrem Sohn eine Ausreisegenehmigung zu erhalten und ihrem
Mann zu folgen. Ende 1939 gelingt es den Beiden durch großes Glück nach
Palästina zu emigrieren. Nur Mina blieb zurück und kam nach Theresienstadt ins
Ghetto, wo sie starb.
Ein so direktes Zeugnis, wie das Kochbuch aus Theresienstadt, von Zeitzeugen aus
dem Lager geschrieben, hatte ich noch nie zuvor in den Händen gehalten. Man kann
sich heute gar nicht vorstellen, wie schmerzlich es für die Frauen und Mütter
gewesen sein muss, die eigenen Kinder, Verwandten und Freunde in Theresienstadt
-und natürlich auch in anderen Lagern- sterben zu sehen. Und wie furchtbar muss es
gewesen sein mit hungrigem Magen und ohne Hoffnung auf baldige Änderung
dieses Kochbuch zu schreiben...
Tanya hatte mir diese Rarität von „Kochbuch“ anvertraut und ich durfte mir eine
Kopie erstellen, denn viele Exemplare gibt es nicht davon.
Eine Strophe aus Mina Pächters Gedichtsammlung, die sie in Theresienstadt
schrieb:
4
„Bei der Türe liegt ein Schwesternpaar
Harmonisch wie selten es war
Sie kochen zusammen oft nur platonisch
Zusammen geschmolzen die Vorräte sind
Jede hat da Mann und Kind
Doch erfinderisch sind beide in diesem Fach
Immer haben sie etwas Neues erdacht
Oft schon hab ich davon versucht
Und nur das geringe Quantum verflucht“.
5
Billige Hagebutt Busserln
4-5 Eiweiss Schnee gtbe dazu 20 D Zucker und 15 D Haselnüsse
dies schlage im Wassei bad bis es dick und warm ist; gebe dazu 4-5
Löffel Hagebutt Marrm lade und 3^ Löffel Stärke od. Kartoffelmehl .
Mache mit dem kl.Löfj zl auf Oblaten Pusserln und backe es in lauer
Röhre.
Cheap Rose Hip Kisses
[To] 4 5 [egg whit6s itiffly be3C6n co] snow, sdei 20 deesgrsms
sugar and 15 decagrams hazelnuts. Beat in waterbach until thick
and warm. Add 4-5 s 30ons rose hip jam and 3^ spoons com'
starch or potato starch. With the small spoon make kisses on
oblaten [small rounds of edible wafer] paper and bake in a low
oven.
aectpei'
21
Schüssel Pastete
Mache einen Blätterteig den man 3 — 4 Mal geblättert hat, gebe ein
ausgewalktes Stück von dem Teig in die Form wo Du es auf den Tisch
gibst, backe dies halb in heisser Röhre. Jetzt mache einen grossen
Papierbausch auf die Pastete mache rings herum aus dem Teig einen
Rand und einen Teigdeckel lege auf den mit Fett bestrichenen Papier^
bausch bestreiche den mit Ei und backe es in heisser Röhre.
Unterdessen mache Dir die Pastetenfülle vorbereitet und ;[u'ar]
entweder junges Gemüse od. Hirn mit Ei od. Schwämme mit Ei oder
eine richtige Farce gebratenes Kalbfleisch und Hühnerfleisch, wird
fein gehackt, l Kalbshim gebraten, 15 Dkg Zunge, od. Selchfkisch,
3 Sardellen, 3 geweichten Semeln, 3 ganze Eier, Schwämme, HoA-
nenkämmchen ein dicker Bechamell, Zitronensaft, ‘/i Glass Weiss-
wein, Pastetengewürz; schmecke es ab und gebe es in die Farm. Den
Deckl hebe vorsichtig ab, gebe den Papierbausch weg und gebe diese
farce so heiss als möglich in die Form. Gebe den Kuppelartig gewölbten
Deckel darauf und bestreue es mit Parmesan und gebe es so heiss als
möglich zu Tisch.
Wasserbett Teig
^/i kg Mehl, 1 2 dkg Butti r, 5 dkg Hefe. Alts dem Germ macht man
ein Dampfl. Die Butter reibt man mit Reibeisen, Rum, Zitronen-
schale, Salz und aus all c em macht man einen festen Teig ohne jede
Flüssigkeit recht fest. Dei . Teig in einer Serviette gewickelt, die Enden
zusammen binden. Gib i s in einen Weidling bisschen kaltes Wasser
auf eine Stunde gelegt. Man kann alles damit machen.
Waterbed Dough
'Ä kilogram flour, 12 de lagrams butter, 5 decagrams yeast. Make
a sponge from yeast. TT e butter is grated on a grater. [Add] rum,
lemon rind, salt. Out o all one makes a stiff dough without any
liquid. Roll the dough iato a napkin. Tie the ends together. Lay
it [the dough] in a Weidling [a large bowl] [with] a [ittle cold
water for 1 hour. One can do everything with it [the dough].
Kapuziner Nockerl (Suppe)
3 Eiweisß Schnee, I Dotter, Salz, Pfeffer, Semmelbrösel in lockeren
Teig machen. Kleine Nockerln in Fett heiß backen in Rindsuppe
servieren.
Kapuziner Dumplings (for Soup)
Snow from 3 [stiffly beaten] egg whites, 1 egg yolk, salt, pepper
and breadcrumbs to make a loose dough. [Form] small dump-
lings. Fry them in hot fat. Serv'e in beef soup [a broth].
nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnniiiiniiiinnnnnnnnn
m mtmury i t\ucnen
LO
Zweischken Strudel
Mache eine Strudelteig mi: 1 Ei etwas Fett und Mehl und lasse ihn
unter einem erwärmten To of rasten. Jetzt weiche 3 Semmeln in Milch
bis selbe ganz aufgeweicht :ind, gebe sie in eine Schüssel. Gebe dazu
1 5 Deca Butter, 30 Deca 1 '.ucker, einen Löffel Zimt, Zitronenschale ,
4 Dotter, 1 5 Deca gerieber Haselnüsse & von den 4 Eiweiss Schnee ,
mische diese Masse gut zu: ammen. Ziehe jetzt den Strudelteig etwas
stärker aus ab den gewöhi .liehen, streiche die Masse auf den selben
& bestreue es mit Zwetschl en die auf Nudeln zerschnitten und ungef.
auf dieses Quantum l'/z k;., rolle den Strudel zusammen backe ihn
in heisser Röhre muss hock & schön werden.
Plum Strudel
Make a strudel dough w ch 1 egg, some fat and flour, and let it
rest under a heated pot. ^ow soak 3 rolls in milk until they are
very soft. Put them in a h )vvl. Add 15 decagrams butter, 30 deca-
grams sugar, 1 spoon cinnamon, lemon rind, 4 egg yolks, 15 deca-
grams ground hazelnuts, < nd from the 4 [stiffly beaten] egg whites
.snow. Mi.x this mass [batter] together well. Now stretch the
dough a little thicker tf an usual. Spread on it the [nut] mass
[mi.xture] and sprinkle t with prune plums cut into noodles
[noodle shape]. For this quantity, about VA kilograms plums
[prune]. Roll strudel and bake in a hot oven; should be high
beautiful.
I
necipes
zy
Pomerische Gansbrust
Von einer schweren Gans, nehme den Beilik. Schneide von beiden
Seiten das Fleisch, reibe es mit zertriebenem Knoblauch, etwas Salz,
V: halber Würfel Zucker zerreiben, bisschen Ingwer, gut einklopfen
mit der bbssen Hand und lasse es stehen. Jetzt nehme die schöne
Ganshaut, lege das Beilik fleisch hinein und nähe die Ganshaut rings
herum fest ein gebe sie in einen glossierten irdenen Topf und bestreue
es mit bbchen Salz, Potasche & Salpeter; beschwere es mit einem Teller
& Gewicht und lasse es in der Beize 4 Wochen liegen & wende es
täglich. Gebe es auf 2 Tage in den Selchofen dem Selcher. Man kann
es auch zum Selcher in die Beize geben und lasse es schön braun
selchen.
Breast of Goose, Pommern Style
From a heavy goose, take [remove] the beilik [breast]. Cut the
meat from both sides, rub it with mashed garlic, some salt, Vz
half sugar cube, a little ginger. Pound it [the mi.xture] in well
with [your] bare hand and let it stand. Now take the nice skin,
place the [seasoned] beilik on the skin and tightly sew the goose
skin around. Put it into a glazed earthenware pot, sprinkle it with
a little salt, potassium and saltpeter. Cover the breast with a plate
•St weights and let it lay in the brine for 4 weeks, turning it daily.
Give it to the selcher [pork butcher/sausage maker] for 2 days
[to put in] the smoker. One can also bring the goose breast to
the pork meat butcher and let him cure and smoke it until it is
nicely brown.
34 In Memory’s Kitchen
[Recipe for use of Agar]
Agar zu Gelee in allem zu Jerwenden. Agar wird über Nacht in
Zuckerwasser weichen gelosten, nächsten Tag weich gekocht bis es
weich gekocht ist. Zu Torten Kleingebäck u. zu Fisch zu verwenden.
Apfelmehlspeise [n] werden < 'orher mit Zucker bestreut u. mit Agar
begossen.
Agar for jelly to be used f )r [coating] everything. Agar is left
overnight in sugar water to often. Next day it is soft cooked until
it is soft cooked. To be use d for cakes, small pastries, and fish.
Apple desserts [cakes] are jprinkled with sugar before pouring
on [dissolved and cooked] agar.
i
1
Recipes
35
Heu und Stroh
Mache einen Nudelteig aus Vz Kg. Mehl, 2 Eier, 2-3 Esslöffel
Weisswein, 2-3 Löffel dicken sauren Schmetten. Walze die Nudeln
mittelstark aus. Schneide kurze Nudeln, backe selbe in heissem Fett
aus. Nehme sie heraus gebe sie in eine Aufktufschüssel bestreu sie
mit Zucker, Zimt u. viel Rosinen. Jetzt mach eine feine Vanille Creme
gebe dazu etwas rohen Schmetten, giesse dies über die gebackenen
Nudeln gebe es in eine heisse Röhre und überbacke es und gebe es in
der Form zu Tisch.
Hay and Straw
Make a noodle dough from Vi kilogram flour, 2 eggs, 2-3 table-
spoons white wine, 2-3 tablespoons thick sour cream. Roll out
the dough medium thick. Cut short noodles and fry them in hot
fat. Remove them and put them into a souffle dish. Sprinkle
them with sugar, cinnamon and many raisins. Now make a deli-
cate vanilla cream, add a little raw [uncooked] cream and pour
over fried noodles. Put the dish into a hot oven and bake it a
little. Bring to table in dish.
■ I MX » Bi ■ ■
1
V.
26 In Memory’s Kitchen
Kletzen Bread [Fruit Bread]
Take 14 kilogram dried pear ; and boil them a little in strong sugar
water [syrup]. Remove co e and cut pears like noodles [into
strips). Also boil 14 kilogram prunes; not too soft. Pit them and
cut them. Strain the water [syrup] and reserve. Now take 14
kilogram [dried] figs, ^4 kilogram pitted block dates [probably
dates packed together tighi ly], 14 kilogram raisins, candied cit-
ron, orange and lemon peel and all kinds of sugar [candied] fruits
in various colors. Add 1 h rge spoon cinnamon, some ground
cloves, allspice, ginger, 14 k logram coarse sugar, 14 kilogram hot
honey, 14 kilogram fat, either Sana [margarine] or butter, what-
ever is preferred, 1 glass rum, 14 kilogram almonds, 14 kilogram
nuts. Let it stand overnight. Now make a simple yeast dough.
For this amount of fruit n ixture, use about 80 decagrams to
1 kilogram flour. Let the dough rise. Instead of milk, the reserved
black fruit juice [syrup] can I e used. Work the fruit dough [author
probably meant fruit “mi> ture”] by small spoonfuls into the
dough. Put it [the dough], sf aped like a Wecken [long loaf], onto
a greased baking sheet. Let it rise for 3 hours &. bake it slowly.
Let it cool on the baking sheet for 2 days. It breaks easily. One
can brush it on top with but er and egg and stud it with blanched
whole almonds. On the th rd or fourth day, slice it and put it
into a tin box. Out of it one can apportion small Wecken [loaves]
for one person.
Recipes
27
Baierisch Brod
4 ganze Eier werden mit der Schneerute mit 35 D Zucker, Zitronen'
saft & Schale, alles schwarze Gewürz, Zimt, Nelken, Neugewürz,
tüchtig geschlagen 14 Stunde lang dann kommt dazu 2 Tafel Choko'
lade [sic] grob gehackt, 20 Deca grob geschnittene Mandelnod. Nüsse,
& 20 Deca Zitronad [sic] & zuletzt 40 Deca Mehl. Aufs Blech
werden Oblatten belegt & diese Masse auf gegossen, gebacken & noch
warm in längliche Stücke 2 cm breit & 6 cm lang geschnitten.
Bavarian Bread
4 whole eggs with 35 decagrams sugar, lemon juice &. rind, all
black spices — cinnamon, cloves, allspice — are beaten thor-
oughly with a whisk for 14 hour. Then 2 tablets chocolate,
coarsely chopped, 20 decagrams coarsely cut almonds or nuts,
20 decagrams candied lemon peel and 40 decagrams flour are
added. The oblaten [white edible wafer papers] are put onto a
baking sheet &. this thick mass is poured on, baked (St while still
warm, cut into oblong pieces 2 centimeters wide (St 6 centime-
ters long.
’ KOSICi
;^iOTlaNv-8«flTisLayfi M3ßC}iJ6
»
End of Ingrid Decker Collection.